Gänsehaut-Reden der deutschen Geschichte: Freiheit ist das alles Entscheidende
Liebe Leserinnen und Leser,
sicher kennen zumindest alle Älteren unter Ihnen die berühmte Rede aus dem Jahr 1948, in der der damalige Regierende Bürgermeister von Berlin, Ernst Reuter, vor Hunderttausenden Menschen vor dem Reichstag mit brüchiger, geradezu hypnotisierenden Stimme ins Mikrofon (Berliner Bürgermeister) ruft:
„Ihr Völker der Welt… schaut auf diese Stadt und erkennt, dass Ihr diese Stadt und dieses Volk nicht preisgeben dürft und nicht preisgeben könnt!“
Ein Gänsehaut-Moment, vielleicht in unserer Nachkriegsgeschichte nur noch vergleichbar mit Hans-Dietrich Genscher auf dem Balkon der deutschen Botschaft in Prag im September 1989:
„Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise…“
Ob wohl irgendjemand von den über 3000 Deutschen, die damals live dabei waren, denselben verklärten Blick auf Herrn Putin haben, der sich in manchen Telegram-Gruppen und auf Facebook gerade zeigt? Ich kann mich noch gut erinnern an diese Tage Ende 1989, als das Ende der DDR mit Riesenschritten nahte, als die deutsche Teilung plötzlich überwindbar schien, was kaum jemand zumindest in Westdeutschland noch für möglich gehalten hatte.
Freiheit, Einheit, Wohlstand, Rechtsstaat, zum Westen gehören, ja genau: Zum Westen gehören.
Und dann Bundeskanzler Helmut Kohl am 19. Dezember 1989 vor der Dresdner Frauenkirche vor 100.000 und mehr ostdeutschen Landsleuten:
„…wenn wir dieses Selbstbestimmungsrecht für die Deutschen verwirklichen wollen, dann dürfen wir auch die Sicherheitsbedürfnisse der anderen nicht außeracht lassen. Wir wollen eine Welt, in der es mehr Frieden und mehr Freiheit gibt, die mehr Miteinander und nicht mehr Gegeneinander kennt.“
Die dritte große Gänsehaut-Rede in der deutschen Geschichte nach 1945, hier für Sie in voller Länge nachzulesen.
Klar, es ging damals für viele Ostdeutsche vorrangig erst einmal um eine Verbesserung der persönlichen Lebensverhältnisse – und das ist doch völlig normal, das wäre bei mir nicht anders gewesen. Eine kompatible und starke Währung, eine sanierte Wohnung, ein richtiges Auto. Und erst weit danach Reisefreiheit, Meinungsfreiheit, Freiheit überhaupt. Ein früherer Chef von mir, der im Kofferraum eines Autos aus der DDR geflüchtet war, erzählte mir später ausführlich von seiner Jugend im Osten Deutschlands. Wie er von einer Brücke aus den Autos nachschaute, die auf der Transitstrecke Richtung Westen rollten, den Westen, den er abends im Fernsehen anschauen konnte. Für ihn sei immer klar gewesen: Dass er dort auch hin will, dass er aus der Unfreiheit raus will.
Der neue Chefredakteur der BILD, Johannes Boie, hat vorgestern einen Kommentar zur Rede Reuters 1948 geschrieben und den Bezug auf das von russischen Soldaten belagerte und geschundene Kiew in diesen Tagen gezogen:
„Damals konnte Berlin nur noch von Flugzeugen versorgt werden, war umzingelt von russischen Soldaten! Die Welt gab Berlin nicht preis, sie gab Berlin nicht auf.“
Was ist bloß los mit uns Deutschen? In was für Zeiten leben wir? Was haben wir uns in den vergangenen Jahren über die teils schwachsinnige Politik unserer Regierungen aufgeregt, über Atomausstieg, GenderGaga, Massenzuwanderung junger Männer aus islamischen Staaten. Und jetzt sind es ausgerechnet diejenigen, die uns das alles – immer mit freundlicher Assistenz der Unionsparteien – eingebrockt haben, die ersten, die begreifen, dass es so nicht weitergehen kann? Man kann sich das gar nicht ausdenken.
Und ich weiß auch, es ist nicht alles nur toll im Westen, und Amerika hat viele Fehler gemacht in der Außenpolitik. Das ist doch gar keine Frage, ich habe das auch in vielen Artikeln und Diskussionen immer wieder kritisiert. Irak-Krieg II – völkerrechtswidrig. Natürlich, wer wollte das bestreiten? Und dann der Friedensnobelpreisträger Obama und seine Nahost-Politik – ein Vollversager im Amt. Aber er konnte immer so schön reden. Nur: Wir Deutschen, wir konnten uns seit 1945 IMMER und IMMER und IMMER auf die USA verlassen. Und weil ich sowieso eher so der treue Typ bin, werde ich das den Amerikanern auch nie vergessen.
14 Staaten Osteuropas, alles Verbündete oder Teil der ehemaligen Sowjetunion, haben sich nach dem Zusammenbruch des Eisernen Vorhangs freiwillig dem westlichen Verteidigungsbündnis NATO angeschlossen. Und wissen Sie weshalb? Weil sie niemals das erleben wollten, was die Ukraine gerade erleben muss. Es ist der aggressive Großmachtanspruch Putins, der ganz Europa nahe an einen großen Krieg heranmanövriert hat. Und es ist die NATO, die jetzt nicht eingreift und eben nicht eskaliert, wie manche Lautsprecher Moskaus uns unermüdlich glauben machen wollen. 150.000 russische Soldaten fahren und schießen da rum in einem souveränen Staat namens Ukraine. Kein einziger amerikanischer Soldat beschießt Wohngebiete und Kernkraftwerke. Es sind Russen, die da töten und zerstören, die aber gar nichts dort zu suchen haben.
Bei der Generalversammlung der Vereinten Nationen vergangene Woche wurden 199 Staaten aufgefordert, ihre Haltung zur russischen Invasion in die Ukraine zu formulieren. Drei Dutzend enthielten sich, 144 riefen Russland zur sofortigen Einstellung der Kriegshandlungen auf. Nur fünf (!) stimmten für Weiterbomben: Russland selbst, Belarus und Syrien, deren Staatsoberhäupter ohne Putin gar nicht mehr im Amt wären, Eritrea und der Seltsame aus Pjöngjang. Na, herzlichen Glückwunsch, Herr Putin! Das ist mal eine „Koalition der Willigen“, die sich sehen lassen kann auf dieser Welt.
Auf Facebook lese ich heute Morgen ein Posting einer sehr guten Freundin aus Ostdeutschland, eine streitbare und überaus kluge Frau. Sie schreibt allen Ernstes: „Wir müssen jetzt die Amerikaner stoppen!“ Das ist so ein Moment, wo Sie den Mantel anziehen, raus in die Kälte spazieren gehen und leise vor sich hin weinen möchten…. Das tue ich jetzt.
Ihnen Allen ein schönes Wochenende!
Ihr Klaus Kelle
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Klaus Kelle, Chefredakteur