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Wir dürfen nicht die Not von Menschen ignorieren, um bloß nicht „in was reingezogen zu werden“

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

gehören Sie auch zu denen, die über Polizeimeldungen und selbst Artikel über Gewaltverbrechen in Ihrer Lokalzeitung hinwegsehen? Weil Sie gar nicht wissen wollen, was da draußen jeden Tag los ist?

Ich kenne mehrere solcher Menschen, wirklich gebildete Leute, die mir sagen, sie läsen zum Beispiel nur noch die „Zeit“, und das reiche ihnen. All diese Verbrechen, all das Elend, Messerstechereien, Vergewaltigungen, Tötungsdelikte, damit wolle man sich gar nicht beschäftigen. Und man könne doch eh nichts dagegen tun, warum sich also mit dem Leid anderer Leute beschäftigen – wenn es nicht gerade das Leid nahestehender Menschen ist.

Doch genau da fängt das Problem an, denn wenn wir uns nicht mehr für die ernsten Probleme anderer Leute interessieren, wer kümmert sich um uns, wenn wir mal in ernste Schwierigkeiten geraten? Ich habe viele Jahre meines Lebens als Boulevardjournalist und in Berlin sogar eine Zeit lang als Polizeireporter gearbeitet. Glauben Sie mir, da waren Dinge dabei, die möchten Sie gar nicht wissen. Und gerade Tötungsdelikte oder Verbrechen an Kindern, die kratzen auch die Leute an, die sich beruflich damit beschäftigen müssen, Journalisten auch, aber vor allem die Polizeibeamten, zu deren Alltag der Schmutz und das Verbrechen gehören.

Eine Krankenschwester erzählte mir mal, wie sie damit umgeht auf einer Intensivstation jeden Tag Menschen beim Sterben zu erleben, ihnen in den letzten Stunden die Hand zu halten, über ihren Kopf zu streicheln, bevor irgendwann das Herz einfach aufhört zu schlagen. „Man darf das alles nicht an sich heranlassen, Klaus, sagte sie. Sonst wird man verrückt.“

Und Sie bekommen das nicht aus dem Kopf heraus, was tatsächlich in der Realität passiert, hier in Deutschland, das ja als zivilisierte Gesellschaft gilt im Vergleich zu dem, was überall auf der Welt sonst noch so passiert. Mein erster Mordfall war in Bremerhaven, der Täter hatte einen Hund an der Leine und ging im Nebel auf einem Deich spazieren. Ich weiß noch, er trug einen langen Wehrmachtsmantel. Es muss gewesen sein, wie in den alten schwarz-weißen Fernsehkrimis meiner Jugend. Hier spricht Edgar Wallace oder so…

Oder die Mutter in Berlin, die in ihrer Wohnung erstochen wurde im Beisein ihres zweijährigen Jungen, den der Täter verschonte. Das Kind hatte den Täter erkannt, hatte aber nicht den Sprachschatz, um den Kriminalbeamten und Kinderpsychologen verständlich machen zu können, wer der Mörder ist. Da wird man selbst als Berichterstatter irre, wenn man die Details kennt. Ich habe sogar eine Radiosendung damals über den Fall gemacht. Und dann der Typ, der in seinem Auto in München in den Kopf geschossen wurde und vorher noch im bekannten und beliebten „Nachtcafé“ gesehen wurde, wo ich vor vielen Jahren mal meinen Geburtstag gefeiert hatte. Ich will Sie nicht langweilen mit all diesen Erinnerungen, aber wir dürfen nicht wegsehen, was in diesem Land passiert, oft in der Nachbarschaft. Und alle wissen, nebenan stimmt etwas nicht, aber keiner will sich Ärger einhandeln.

Warum erzähle ich Ihnen das und belästige Sie zum Start ins Wochenende mit so einem düsteren Thema?

Wegen Bianca S..

Ich kenne sie nicht, habe nie vorher von ihr gehört, aber sie ist tot. Die 26-jährige Altenpflegerin wurde zuletzt am S-Bahnhof Oranienburg von einer Videokamera aufgenommen, sie war auf dem Weg zu einer Teambesprechung auf der Arbeit. Die begann um 14 Uhr, aber Bianca kam nie dort an. Später am Tag wurde sie von Montage-Arbeitern in einem alten Nazi-Bunker im Wald gefunden. Was ist dieser jungen Frau passiert, die mit ihrem fünfjährigen Sohn bei der Oma lebte? Die Staatsanwaltschaft sagt: Es gibt keinen Hinweis auf ein Sexualverbrechen. Wer macht so etwas? Wer tötet so eine junge Frau, die das ganze Leben noch vor sich hat?

Es muss uns interessieren, wenn wir Kinder nebenan ständig weinen hören oder wenn sich Nachbarn plötzlich im Umgang verändern oder ein geschwollenes Gesicht haben. Oder wenn Kinder plötzlich nicht mehr zur Schule kommen. Ich bin der Letze, der einen Spitzelstaat will oder jeden Nachbarn unter Generalverdacht stellen. Aber ich werbe für hinschauen und denken und unbedingt für Zivilcourage. Lieber einmal zu viel hinschauen oder sich irren, als einen anderen Menschen in höchster Not zu ignorieren.

Passen Sie auf sich und andere auf!

Ihr Klaus Kelle

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Klaus Kelle, Chefredakteur