Wer hat eigentlich die Wissenschaft erfunden?
Im Hörsaal einer namhaften deutschen Universität. Einführungsvorlesung Theoretische Physik. Der Professor behandelt kurz die Geschichte der Physik, dazu projiziert er erläuternde Abbildungen an die Leinwand. Ein paar Slides über antike Denker, die Anfänge der Atomtheorie, kosmologische Überlegungen griechischer Philosophen. Dann eine ganz schwarze Leinwand – wir sind im Mittelalter angekommen, und nach Meinung des Professors gab es da gar nichts. Nur Unwissen und Aberglaube. Weiter geht’s, nach flüchtiger Berührung der Renaissance, über das 17. Jahrhundert zügig zur Aufklärung, obwohl die mit Physik wenig zu tun hatte – und dann schnell ab in die Gegenwart…
Jener Professor hängt offensichtlich einem inzwischen schon recht alten Vorurteil an. Demnach sei mit dem Ende der Antike auch die Wissenschaft untergegangen, die Kirche habe mit ihrem Dogmatismus übernommen, und erst durch Befreiung von kirchlicher Unterdrückung sei der Durchbruch zur Wissenschaft gelungen. Oder, in einer modifizierten Version dieses Märchens: Die Wissenschaft habe selbst heldenhaft Glauben und Aberglauben und all das überwunden. So weit, so falsch… Da muss man dem Herrn Professor leider sagen: Ungenügend! „Sechs“ in Geschichte! Setzen!
Fromme Geistesgrößen
Eigentlich ist das Fehlen von Grundwissen über Geistesgeschichte auch keine Ausrede für Ignoranz. Der Blick auf ein paar der ganz Großen der Wissenschaftsgeschichte sollte eigentlich ausreichen, um zum Nachdenken anzuregen, und deren Namen muss man kennen: Von Blaise Pascal und Isaac Newton bis zu Albert Einstein, Max Planck und Werner Heisenberg. Kaum einer der Begründer moderner Wissenschaft war Agnostiker oder Atheist. Charles Darwin war ein gläubiger Mensch; Gregor Mendel, der Vater der Vererbungslehre, war sogar ein katholischer Priester, ebenso wie George Lemaître, der begnadete Physiker, auf den die Urknalltheorie zurückgeht.
Da muss sich manch ein Religionskritiker warm anziehen, wenn er glaubt, mit ein paar abschätzigen Bemerkungen Glaube und Wissenschaft als unvereinbar hinzustellen. Wenn die wirklich Großen auch gläubige Christen waren, muss man da nicht mit dem Nachdenken anfangen? Werner Heisenberg wird ein unsterbliches Bonmot zugeschrieben, das sinngemäß besagt, nur bei geringem physikalischem Wissen scheine die Wissenschaft für den Atheismus zu sprechen; bei tieferer Kenntnis finde man zum Glauben.
Im Netz der schwarzen Legenden
Aber seien wir nicht zu streng mit dem eingangs genannten Professor. Es ist anzunehmen, dass er gar kein Atheist war, sondern einfach nur unkritisch die radikalen „schwarzen Legenden“ über die Kirche verinnerlicht hatte, die sich schon seit den Zeiten der Aufklärung so hartnäckig halten, obwohl nicht einmal die Aufklärer selbst alle daran geglaubt hatten.
Es fällt auf, dass keiner der großen Protagonisten des Atheismus Naturwissenschaftler war oder wenigstens ein angemessenes Verständnis für Physik, Biologie, Chemie oder Astronomie hatte. Nach solchen Multitalenten sucht man unter den „großen Namen“ atheistischer Weltanschauungen vergeblich – von Feuerbach und Marx über Nietzsche und Sartre bis zu Foucault und deren Epigonen. Ihr Verständnis für Naturwissenschaft war und ist nicht sehr ausgeprägt. Von all den düsteren Legenden über die böse Kirche, die Wissenschaft unterdrückt habe, waren sie gleichwohl zutiefst überzeugt – oder sie taten wenigstens so.
Realitäts-Check
Aber wie war das nun wirklich mit den Christen und der Wissenschaft?
Das Christentum war von Anbeginn an auf beides gebaut, auf Glaube und Vernunft; es hatte sich gerade dadurch so dramatisch von dem verbreiteten Aberglauben und den zahllosen irrationalen Kulten des spätrömischen Reiches abgesetzt. Der Kirchenvater Tertullian insistierte schon im 2. Jh., die Vernunft sei eine „Gabe Gottes“, und Gottes Schöpfung könne mit Hilfe des Verstandes begriffen werden. Dieser uns heute selbstverständlich erscheinende Satz war nicht weniger als ein erster Durchbruch zum wissenschaftlichen Denken, zu Grundsätzen des menschlichen Forschens. Das kam nicht von ungefähr. Die frühen Christen hatten eine besondere Nähe zur klassischen Philosophie, woraus sich die Vorliebe christlicher Theologen für Naturphilosophie entwickelte, Vorläuferin aller Naturwissenschaft.
Wer überwand das „dunkle Zeitalter“?
Als im Zuge der Völkerwanderung seit dem 5. Jh. Teile Europas unter einem zivilisatorischen Einbruch und Verlust städtischer Kultur und Bildung zu leiden hatten, war die Kirche die einzige Kraft, die Kultur und Wissen am Leben erhielt. Es waren Geistliche, die das vorhandene Wissen bewahrten und weiter entwickelten.
Sie setzten sich u.a. mit den Atomtheorien der Antike auseinander – von Augustinus bis Isidor von Sevilla, in dessen enzyklopädischem Werk „Ethymologiae“ aus dem 7. Jh. auf höchstem Niveau die Atomtheorien vor allem des Epikur erörtert wurden. Auch im Mittelalter wusste man selbstverständlich, dass die Erde eine Kugel ist – der vom Kreuz gekrönte „Reichsapfel“ der Kaiser symbolisierte ja nicht die Herrschaft Christi über die Frucht des Apfelbaumes, sondern über die darin symbolisierte Erdkugel. Autoren wie Wilhelm von Ockham (ca. 1295-1349) wussten im Übrigen schon – die Irrtümer antiker Philosophen überwindend – dass sich die Himmelskörper im luftleeren Raum bewegen.
Blütezeit des Wissens und Ursprung der Wissenschaft
Die Grundlagen unserer Wissenschaft wurden im Hochmittelalter gelegt – nicht in der Renaissance oder gar der Aufklärungszeit. Das Prinzip wissenschaftlicher Beweisführung, der Verifizierung oder Falsifizierung von Theorien findet sich in reifer Form bei Albertus Magnus (1200-1280), einem Universalgelehrten (und zeitweise Bischof von Regensburg). In England waren es Robert Grosseteste (ca. 1168-1253) und Roger Bacon (ca. 1214-1294), beide ebenfalls Geistliche, die das wissenschaftliche Arbeiten schon in heutigem Sinne kannten.
Im europäischen Hochmittelalter wurde das Wissen und Können der klassischen Antike nicht nur bewahrt und genutzt, sondern erstmals deutlich übertroffen – auch in angewandter Wissenschaft und Technologie, vom Ackerbau über die Schifffahrt und die Architektur bis zur Astronomie und Biologie. Es waren Scholastiker, die in Medizin und Forensik zuerst das Sezieren menschlicher Leichname unternahmen, was weder Griechen noch Römer, weder Chinesen noch Muslime für zulässig gehalten hatten, die Kirche des Mittelalter hingegen schon. Es geschah auch nicht bei Nacht und Nebel und unter Angst entdeckt zu werden, sondern in öffentlichen Hörsälen. Schon Anfang des 14. Jh. gab es ein Standard-Handbuch der Obduktion, geschrieben von Mondino de Luzzi (1270-1326).
Universitas Scientiarum
Auch die Universität als solche ist eine Frucht des lateinischen Mittelalters. In keiner anderen Kultur konnte das Konzept der freien Gemeinschaft aller Lehrer und Forscher entstehen – und das ist der Sinn der Universität. Über Jahrhunderte war es gerade die Katholische Kirche, die als Förderer, Beschützer und Mäzen der Universität und der Wissenschaft insgesamt auftrat. Die Einzelfälle, in denen „Kirche gegen Wissenschaft“ zu stehen schien, sind seltene Ausnahmen, die die Regel bestätigen. Sie eignen sich zwar zur Konstruktion von säkularistischen Geschichtsmythen; doch diese lösen sich schnell in Luft auf, wenn man sie selbst mit den Methoden der Wissenschaft betrachtet.
Glaube und Wissen gehören zusammen
In unserer Zeit war Josef Ratzinger / Papst Benedikt XVI. ein prononcierter Vertreter jener zutiefst christlichen Sicht der Welt, in der es um die ganze Wahrheit geht, nicht nur die Erkenntnis und das Studium einzelner Aspekte. In seinen Schriften belegte er immer wieder und mit großer Überzeugungskraft, dass sich diese beiden gegenseitig brauchen: Glaube und Vernunft. Fehlt eine von beiden, dann droht der anderen eine Fehlentwicklung. Beide geben uns Zugang zu unterschiedlichen Realitäten, die jeweils von existenzieller Bedeutung für uns Menschen sind. Und was passiert, wenn sich wissenschaftlich-technologisches Wissen und Können vom Rückbezug (religio) auf das Transzendente lösen, das haben wir in unserem Zeitalter zur Genüge erfahren müssen.
Neueste Glaube
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Klaus Kelle, Chefredakteur