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„Strafanzeige des Dienstvorgesetzten“: Anderswo wäre das ein Rücktrittsgrund für einen Regierungschef

Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller während einer Sitzung des Berliner Abgeordnetenhauses. Foto: Jörg Carstensen/Archiv

von CHRISTIAN KOTT

BERLIN – „Berlin ist immer eine Reise wert“, so formulieren Menschen gern, die schon länger nicht mehr dagewesen sind. Zumindest wer an der politischen Auseinandersetzung noch teilnehmen möchte, sollte sich überlegen, inwiefern die Bundeshauptstadt dafür noch das richtige Pflaster ist.

Was ist der Hintergrund? Im Frühjahr 2019 hatte eine Dame aus Berlin-Zehlendorf ein retouchiertes Bildchen in einem sozialen Netzwerk hochgeladen, das den Berliner Regierenden Bürgermeister Michael Müller mit einem nachbearbeiteten Pappschild zeigt, das überspitzt aber inhaltlich zutreffend die offizielle Berliner Regierungsposition zur Flüchtlingspolitik verballhornt: „#allenachberlin“. Ob so seriöse Politik funktioniert, kann man unterschiedlich sehen, aber wer jemals ein einziges Semester Strafrecht gehört oder eine Folge „Liebling Kreuzberg“ gesehen hat, erkennt auf dem ersten Blick, dass hier kein strafbarer Hintergrund vorliegt. Ein zivilrechtlicher übrigens durchaus, aber darum geht es hier nicht.

Denn nicht etwa zivilrechtlich sondern im Wege einer Strafanzeige ging der Regierende Bürgermeister gegen die kreative Facebook-Nutzerin vor.

Auch das ist noch keine Sensation, denn jeder darf so viele unbegründete Strafanzeigen erstatten wie er oder sie will, solange er bei den dort behaupteten Tatsachen bei der Wahrheit bleibt. Aber die Umstände unter denen Müller das machte, zeigen, dass er ein Verhältnis zur Rechtsordnung hat, das in weniger skurrilen Zeiten als den heutigen zwingend zum sofortigen Rücktritt geführt hätte.

Müller hatte nämlich mit dem Briefkopf des „Regierenden Bürgermeisters“ (und das ist keine Bezeichnung, die er beliebig gebrauchen darf) die Strafanzeige direkt an den Leitenden Oberstaatsanwalt geschickt und ins Betreff „Strafanzeige des Dienstvorgesetzten“ gesetzt. Es ist offensichtlich, was er damit bewirken wollte.

Und das hat geklappt: Während jeder Jurastudent im ersten Semester das Vorliegen eines Anfangsverdachts, den die Staatsanwaltschaft eigentlich zuerst zu prüfen gehabt hätte, verneint, findet sich sofort ein eifriger Staatsanwalt, der mit zusammenknallenden Absätzen allen Ernstes einen Durchsuchungsbeschluss gegen die lustige Zehlendorferin beantragt und ein Ermittlungsrichter, der ihn unterschreibt. Wenige Tage später erhält die Dame unerwarteten Besuch, der als vermeintliche „Tatmittel“ alles mitnimmt, mit dem man sich auf Facebook verbinden kann.

Erst das Landgericht Berlin kommt zu dem Ergebnis, dass die Durchsuchung (ja was denn sonst?) rechtswidrig war und erst gar nicht ein Anfangsverdacht vorgelegen hätte, der Ermittlungen gerechtfertigt hätte.

Müller sieht kein Problem. Zurücktreten? Warum?

Die Zeiten ändern sich: Franz Josef Strauß musste in der SPIEGEL-Affäre für viel, viel weniger den Hut nehmen, denn dort konnte man immerhin noch auf die Idee kommen, dass hier eine strafbare Handlung vorliegen könnte. Heute und in Berlin muss man dafür schon Müller heißen und hat diese Auffassung dann ganz exklusiv für sich allein.

Nicht nur die Zeiten, auch die Sitten haben sich geändert. Wenn ein Landesregierungschef wegen eines bösen Bildchens auf Facebook seine Kompetenzen derart überzogen überschreitet und nicht einmal zurücktritt wenn er dabei erwischt wird, dann zeigt das vor allem, was aus dem politischen Diskurs heute geworden ist: Der politische Zweck heiligt absolut jedes Mittel.

Denken Sie daran, wenn Sie sich politisch betätigen, Ihnen Ihre Eingangstür lieb ist und absolut sicher sind, sich innerhalb der Grenzen von Recht und Gesetz zu bewegen: Darauf kommt es mittlerweile nicht mehr an, denn mit selbstherrlichen Despoten ohne jegliche Selbstreflexion wie Müller, willfährigen Staatsanwälten und unkritischen Ermittlungsrichtern lassen Sie besser immer Ihre Wohnungstüre offen stehen, damit sie nicht des frühen Morgens von den Hilfsbeamten der Staatsanwaltschaft eingetreten wird.

Eine andere Frage wiegt mindestens ebenso schwer: Selbst wenn man in dem Bildchen der Zehlendorferin abwegigerweise einen Straftatbestand, z.B. eine Beleidigung, hätte erkennen können, ist vollkommen ausgeschlossen, dass Staatsanwaltschaft oder Ermittlungsrichter so vorgegangen wären, wenn SIE das Opfer dieses Kapitalverbrechens wären. Dann nämlich wird so etwas sofort auf den Privatklageweg verwiesen, weil Ihre Persönlichkeitsrechte nun einmal weniger wert sind als die eines Herrn Müller.

Derzeit laufen in Berlin mehrere parlamentarische Anfragen zu diesem Skandal. Unter anderem stellt der Abgeordnete Marcel Luthe von den Freien Wählern unangenehme Fragen danach, wie es in Berlin mit dem rechtsstaatlichen Grundsatz der Gleichbehandlung so gehalten wird, wenn in Müllers Fall binnen weniger Tage eine rechtswidrige Durchsuchung veranlasst wird, obwohl etwa im Falle einer Vergewaltigung oder anderer massiver Delikte schon die Übersendung eines Aktenzeichens Wochen bis Monate dauert.

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Klaus Kelle, Chefredakteur