Unser Gesundheitssystem ist mehr als am Limit: Verdi und der Tod
Wenn Politik und wirtschaftliche Interessen Menschen in ihrer Existenz bedrohen, dann ist es immer schwer, die passenden Worte zu finden. „Es geht um Leben und Tod“ war der Einstieg in einen meiner jüngeren Texte. Obwohl es genau so ist, sträubt sich alles, immer wieder diese letzten Grenzen menschlicher Existenz in den Zeugenstand zu rufen. „Ich wurde in letzter Minute vor Ablauf der Frist zu einer validierbaren Teilnahme an einer Krebs-Studie operiert. Da war es schon zu spät.“ Frau S. war zwar wegen Dringlichkeit nach mehreren abgesagten Operationsterminen in den OP-Saal der Universitätsklinik Aachen geschoben worden. Die Chirurgin hat sie „geöffnet“.
Angesichts der vielen neuen Metastasen entschied das OP-Team, dass es sinnlos sei, hier „weiterzumachen“. Frau S. wurde „wieder zugemacht“ – das ist die Sprache, ich kann nichts dafür! – und in den Aufwachraum geschoben. Irgendetwas – das war für sie selbst nach dem Heraufdämmern aus der Vollnarkose spürbar – stimmte nicht. Keine ausgeglichenen Gesichter, keine Erleichterung, kein Aufatmen, nirgends. Das Personal war einsilbig, geschäftig unterwegs und bemüht, dem Gespräch aus dem Weg zu gehen. Irgendwann erfuhr Frau S. dann doch: „Die OP wurde vorzeitig beendet. Sie sind inzwischen wieder soweit voller Metastasen, dass es ,sinnlos‘ wäre weiter zu operieren.“
Es war nicht die operierende Chirurgin, die ihr diese Nachricht überbrachte. Es war die onkologische Psychiaterin, die ihr nach zwei Tagen ohne konkrete Nachricht, die Mitteilung überbrachte: „ein, anderthalb Jahre, wenn es gut geht. Vielleicht aber auch nur drei Monate weitere Lebenszeit.“ Auf die Frage, was sie denn „jetzt noch machen könne“, meinte die Psychiaterin: „Bereiten Sie Ihre Beerdigung vor, Frau S. Erledigen Sie Ihre Dinge.“
Solche Schicksale lassen der Erfahrung nach kaum einen Menschen kalt. Aber neben all der empathischen Betroffenheit kommen natürlich auch die berufsbedingten Fragen auf: Wie kann in Deutschland 2022, einem der Länder mit einem – wie man aus der Politik heraus immer wieder gerne plakativ und auf andere herabschauend verkündet – „der besten Gesundheitssysteme der Welt“, eine solche Situation überhaupt entstehen? Wer ist verantwortlich? Warum läuft da so viel „schief“? Wer ist Opfer der Entwicklung? Wer betreibt sie aktiv? Wer wird bei oberflächlicher Betrachtung angeprangert? Wer steht aber dahinter?
In den vergangenen zwei Jahren sollte allen Bürgern bewusst geworden sein, wie sehr unser Gesundheitssystem hart am Rande des Leistbaren operieren muss. Verantwortlich dafür sind die Krankenkassen, die möglichst wenig pro „Fall“ zahlen wollen, Einrichtungsbetreiber, die möglichst viel aus jedem „Fall“ erwirtschaften wollen und eine Politik, die sich dem Diktat der Gewinnoptimierer selbst da unterwirft, wo es tatsächlich um „Leben und Tod“ geht. Obwohl es um Menschen geht.
Ein solches System immer weiter zu strapazieren, muss unweigerlich zur alten Weisheit der Klempner führen: „Nach fest kommt ab!“. Ohne jegliche Rücksicht auf Verluste wurden Einrichtungen zusammengestrichen, Bettenbelegungsquoten eingeführt, Personalschlüssel heruntergerechnet. Die Folgen? Die Menschen, die im Gesundheitssytem arbeiten, werden über Gebühr bis über die Belastungsgrenze hinaus zur Gewinnoptimierung ausgequetscht.
All das ist seit Jahren bekannt und war absehbar. Die Pandemie hat die prekäre Situation verschärft und gnadenlos offengelegt. Übrigens: Einer der verantwortlichen Protagonisten der Verschlimmbesserung des Systems heißt Karl Lauterbach. Der Name kommt Ihnen bekannt vor? Ja, da haben Sie Recht. Es ist genau der Lauterbach, der vor der Verknappung der Betten auf Intensivstationen panisch gewarnt hat, während aufgrund seiner Politik Betten abgebaut wurden. Nun wehren sich die Menschen, die als Dienstleister in diesem System die Last dieser unmenschlichen Politik auf ihrem Kreuz tragen müssen: Das Pflegepersonal. Der Widerstand dieser Menschen ist berechtigt. Dennoch muss man an dieser Stelle auch Fragen stellen: Heiligt das berechtigte Ziel alle Mittel? Darf man für eine Aufstockung des Personals, für einen realistischen Personalschlüssel, für den Abbau von Überstunden und eine faire Entlohnung des belastenden Dienstes, anderer Menschen Leben aufs Spiel setzen bzw. „ins Spiel bringen“?
Seit Beginn des Streiks des Pflegepersonals im Uniklinikum Aachen – inzwischen mehr als neun Wochen – wurden weit mehr als 1000 wichtige Operationen verschoben. Frau S., die Dame, die noch die Fassung hat und die Stimme fand, Auskunft zu geben, hat eine Leidensgenossin, deren Termin für eine lebenserhaltende Krebsoperation bisher neun Mal verschoben wurde. Jede neue Terminierung scheint inzwischen vollkommen überflüssig. Sie ist durchmetastasiert, hat keine Chance mehr! Sie „lebt nur noch von Beruhigungstabletten“.
Ist es das wert? Darf man Menschen für solche gesellschaftspolitischen und tarifkämpferische Ziele opfern? In einer Zivilisation sollte sich so etwas verbieten. Wenn die Verantwortlichen noch einen Funken Anstand im Leibe haben, setzen sie sich so schnell wie möglich zusammen und kommen zu vernünftigen Lösungen, die den Menschen in den Mittelpunkt der Bemühungen stellen – nicht Finanzinteressen.
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