Von Orten des Zaubers: Meiningen sehen und…. verlieben
Als ich am Bahnhof stand, von dem man gar nicht glaubt, dass es der Bahnhof des Flughafens ist – ehrlich gesagt, musste ich nachfragen, wo denn überhaupt der Flughafen in Lübeck zu sehen ist – war ich traurig. Abschiede sind immer schrecklich, und wenn man ahnt, dass es dauern wird, bis man seinen besten guten Freund wieder sieht, umso mehr. Ich will nicht nach Hause, aber eigentlich muss ich nach Hause. Gibt es ein Zuhause ohne Heimat? Was mache ich hier eigentlich gerade?
Physisch gesehen fuhr ich mit dem Zug. Während der Fahrt in der Bahn, die im Norden begann und im Süden enden würde, dachte ich nach und überlegte, welchen Grund es geben könnte, noch nicht zu Hause aufschlagen zu müssen. Nachdem ich die Gründe sehr schnell gefunden hatte, ging es nur noch um das „Wohin.” Die App der Deutschen Bahn zeigt die Haltestellen an, an denen ich vorbeifahren sollte. Irgendwann war ich in Thüringen. Suhl. Hotel? 42 Euro am Bahnhof. Gebucht und via PayPal bezahlt. Das war einfach. Das Hotel entpuppte sich als Hostel und Suhl als Stadt, die de facto nur aus Wurst besteht. An jeder Ecke ein Metzger mit Mittagstisch. Broiler mit Pommes oder Kartoffelsalat. Wurst. Thüringer Klöße. Wurst. Suppe mit Wurst und dem obligatorischen Brötchen. In den Geschichtsbüchern werden die Historiker später schreiben: „Sie hatten nichts in Suhl. Aber sie hatten Wurst.”
Auch dieser Abschied wird schrecklich
Am Morgen von Tag zwei, streng genommen Tag zehn in der Diaspora, wachte ich auf und überlegte wieder: „Welchen Grund könnte es geben, nicht nach Hause zu fahren?”. Nachdem ich auch hier schnell zu einem validen Argument für die Verlängerung der Reise kam, ging es wiederum nur um das „Wohin”. Also machte ich wieder die App der Deutschen Bahn auf, die die Haltestellen anzeigt, an denen ich vorbeifahren würde. Welche Stadt soll es denn sein? Meiningen? Meiningen!
Von der Stadt in Südthüringen wusste ich bisher nur, dass das Staatstheater gar nicht übel sein soll. Zunächst ging es ab ins Hotel, das „Knasthaus” heißt, was es auch früher einmal war. Betonung soll hier auf „war” liegen, denn ich konnte kommen und gehen, wann ich wollte, und der Service war auch einwandfrei.
Meiningen das Adjektiv „schön” zu geben, wäre ein unverschämter Euphemismus. Meiningen ist nicht schön. Meiningen ist stimmig. Die Mundart scheint noch thüringisch zu sein, der Charme und die Bauart sind jedoch eindeutig fränkisch geprägt. Ein mittelalterlicher Prachtbau übertrifft die nächste architektonische Schönheit. Ein wirklich kleiner und wirklich sehr putziger Supermarkt sorgt für die Grundversorgung. Was braucht man mehr in diesem kleinen Paradies?
Hier ist die Welt noch in Ordnung
Nach zwei Telefonaten mit meinem besten guten Freund und einer lieben Kollegin war mir klar: Ich bin in diese Stadt verliebt. Alles ist leicht, der Nahe Osten ist so fern, und Nürnberg ist noch weiter weg. Hallo, Meiningen, kann ich hier wohnen? Ich störe auch nicht, bin nur da, um hier zu sein. Ich wusste jetzt schon, dass auch dieser Abschied schrecklich werden würde. Aber jetzt bin ich noch ja noch da, dachte ich mir.
Der Hunger trieb mich in die „Schloss-Stuben”, in der ich mich auf Thüringer Klöße freute. Diese heißen hier „Meininger Hütes” und gelten als Spezialität. Als ich die Speisekarte studierte, sprang mir ein Gericht sofort ins Auge. Ein Kloß-Burger! Den will ich, und zwar sofort.
Keine 20 Minuten später war es dann so weit. Der Kloß war traumhaft weich, das Patty wohl gewürzt und medium gebraten. Statt Cheddar kredenzte die Küche Camembert mit Preiselbeeren. Dazu gab es Salat, der leicht angemacht war. Kurz gesagt: ein Gedicht. Wunderschön, abgeschmeckt und herrlich nahrhaft. Das Lob freute das Personal, und am Nachbartisch sagte einer, er hätte heute fünf Klöße gegessen. Respekt an der Stelle.
Wenn New York die Stadt ist, die niemals schläft, dann ist Meiningen die Stadt, die immer schläft. Es ist aber kein Alptraum, der dir Angst vorm Schlafen macht, sodass man dann gar nicht mehr schlafen mag. Es ist ein wohliger, geborgener Traum im Süden eines völlig unterschätzten Bundeslandes. In Meiningen ist die Welt sprichwörtlich in Ordnung. Da ist Gaza ganz weit und Berlin in einer anderen Sphäre.
Überall gibt es kleine Orte des Zaubers
„Ich will dort wieder hin. Vielleicht für länger. Oder vielleicht wieder als Besucher. Als ich in Schweinfurt umstieg, lernte ich den vermutlich hässlichsten Bahnhof der Welt kennen. Und in Nürnberg angekommen, wusste ich genau: Deutschland hat andere Probleme als zu wenig Wärmepumpen. Deutschland fehlt es an Geist.
Es scheint, als sei die Deutsche Seele in einem riesigen Spiegelsaal eingesperrt. Überall sieht man sich selbst, und überall sieht alles fast gleich aus. Bei so viel Selbstbestätigung in die falsche Richtung fehlt es an Reflektionsmöglichkeiten. Wenn das Entsetzliche zur Gewohnheit wird, dann sind neue Grausamkeiten keine Skandale mehr, sondern Routine im Alltag eines banalen Lebens.
Der kleinste gemeinsame Nenner dieser Reise ist sicherlich der, den schon Franz Beckenbauer prägte: ‚Geht’s raus und spuit’s Fußball!‘. Über den Rand zu blicken, gibt die Chance, sich selbst in einem anderen Licht zu sehen. Ob Lübeck, Suhl – das ist die Stadt, die nur aus Wurst besteht -, Meiningen oder ein Dorf zwischen Bingen und Bad Kreuznach, das wie ein Stadtteil von Berlin heißt. Überall gibt es kleine Orte des Zaubers, die es lohnt, dass man sie besucht. Und fast immer sind es die Menschen, die diese Plätze zu etwas Besonderem machen.
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Klaus Kelle, Chefredakteur