Die Qual des Wahl-O-Mat
von FELIX HONEKAMP
Der Wahl-O-Mat zur Bundestagswahl ist online (TheGermanZ berichtete) – und nicht wenige Nutzer verteilen ihre Ergebnisse auch in den sozialen Netzwerken. Das gibt auf der einen Seite ein bisschen Einblick in die Seelenwelt der Kontakte, legt aber auch offen, wo es bei diesem System hakt. Dabei will ich nicht darauf hinaus, dass der Wahl-O-Mat ein Programm der Bundeszentrale für politische Bildung ist, denen ich eine politische Neutralität nicht unterstellen kann. Ich gehe auch – gerade bei unseren Lesern – davon aus, dass sie die Empfehlungen des Wahl-O-Mat nur als Hinweis und in keinem Fall als vorweggenommene Wahlentscheidung sehen. Die Tücke liegt aber im Detail, wie die konkreten Antworten der Parteien deutlich machen.
Und um es gleich vorneweg zu sagen: Es gibt eine Partei, die ich in NRW leider gar nicht wählen kann, die in meiner ermittelten Gunst aber ganz weit vorne liegt: die „Partei der Vernunft“ (pdv) als meines Wissens einzige libertäre Partei in Deutschland, die allerdings nur mit einer Landesliste im Saarland antritt. Mit einigem Abstand folgt dann die FDP und – damit fast gleichauf – die AfD, die ich nun allerdings nicht als liberal oder libertär eingeschätzt hätte. Danach klafft wieder eine Lücke bis zur Union und anschließend eine noch größere zur SPD und den noch weiter links verorteten Parteien. Aber wie kommt es, dass das Wahl-O-Mat-System die AfD als drittpassendste Kraft für einen Liberalen sieht? Und was sorgt für den Abstand zwischen einer libertären und einer liberalen Partei?
Dazu zwei Beispiele aus der Befragung. Erstens: Die These „Für die Aufnahme von neuen Asylsuchenden soll eine jährliche Obergrenze gelten.“ habe ich beispielsweise in dem Test bejaht. Die Begründung der pdv, die das genauso sieht, hätte ich dabei nicht besser formulieren können: „Die Aufnahmekapazität (Obergrenze) soll allein von der Hilfsbereitschaft der Bürger zur Versorgung und Eingliederung abhängen. Die Versorgung von Asylsuchenden in Deutschland soll nur von Privatpersonen und privaten Organisationen, wie z.B. von über Spenden finanzierten Hilfsorganisationen, übernommen werden. Das langfristige Ziel ist, dass diese Organisationen alle Kosten der Asylanten übernehmen, also Unterkunft, Verpflegung usw.” – mit anderen Worten: Der Grund für eine Obergrenze kann nicht Rassismus oder gar die Bewahrung einer kollektiven Leitkultur sein, an der sich Politiker aller Parteien sonst gerade die Zähne ausbeißen. Das Limit liegt in der Finanzierbarkeit durch diejenigen, die nach Deutschland einreisen wollen und durch diejenigen, die das selbst finanzieren und nicht andere zur Kasse bitten wollen. Das bedeutet nebenbei – so viel möchte ich meinen Landsleuten dann doch zutrauen –, dass man einiges zu tun bereit sein wird, wirklich Schutzsuchenden diesen auch zu gewähren – aber eben nur Schutz und keine verdeckte Einwanderung in Sozialsysteme.
Dagegen wird die AfD mit folgender Begründung zitiert: „… und zwar eine Obergrenze von Null. Solange dies aber nicht erreichbar ist, fordert die AfD eine Minuszuwanderung, d.h. die Zahl der Abschiebungen muss die Zahl der Neuanträge überschreiten. Deutschland verkraftet nicht weitere Millionen unqualifizierter und vielfach unqualifizierbarer und nicht integrationsbereiter Menschen. Sowohl die Integrationsfähigkeit als auch die finanzielle Leistungsfähigkeit unseres Landes werden bereits seit Jahren überfordert. Dies war früher übereinstimmende Meinung von Politikern wie Helmut Schmidt u. a. und von Integrationsfachwissenschaftlern. […].” Das ist dagegen Kollektivismus pur, sowohl mit Blick auf Flüchtlinge („Millionen unqualifizierter und vielfach unqualifizierbarer und nicht integrationsbereiter Menschen“) als auch mit Blick auf die Deutschen, denen die Umsetzbarkeit einer adäquaten Asylregelung abgesprochen wird. Als ob ein „Wir schaffen das nicht!“ nicht genauso falsch wäre wie ein „Wir schaffen das!“
Zweites Beispiel: BAföG. Die These „BAföG soll generell unabhängig vom Einkommen der Eltern gezahlt werden.“ habe ich aus dem gleichen Grund abgelehnt, aus dem sich die pdv zu dieser Frage neutral geäußert hat: „Ein staatliches Bafög wird abgelehnt. Die Finanzierung kann über Stipendien, Kredite oder familiäre Unterstützung individuell gestaltet werden.” Die AfD hat der Wahl-O-Mat-These ohne Begründung zugestimmt, da fällt ein Vergleich schwer. Aufmerken muss man aber bei der Begründung für die Zustimmung der FDP: „Wir Freie Demokraten setzen uns für eine elternunabhängige Ausbildungsförderung für volljährige Schüler, Auszubildende und Studierende ein. Junge Menschen sind eigenständige Persönlichkeiten, die sich selbst für ihren Ausbildungsweg entscheiden wollen. Die Wahl der Ausbildung stellt für sie die Weichen für die Zukunft. Schüler, Auszubildende und Studierende sollen ihren Talenten folgen und müssen ihre Wahl frei und ohne Geldsorgen treffen können.” Was diese Einschätzung, die man abkürzen kann mit „die Gesellschaft muss die Studieninteressen junger Menschen unterschiedslos unterstützen“, mit Liberalismus im Sinne einer Eigenverantwortung zu tun hat, fällt schwer nachzuvollziehen. Die einzige Erklärung ist wohl ein fehlgeleiteter Liberalismus, der jedem seinen eigenen Lebensweg nicht nur offen hält sondern dessen Umsetzung auch zu einer gesellschaftlichen Aufgabe erklärt. Daher andersherum gefragt: Wieso soll ein Arbeitnehmer, dessen Kind eine erfolgversprechende Ausbildung in einem Handwerk anstrebt, oder ein Landwirt, dessen Sohn den elterlichen Betrieb übernehmen möchte, die Beschäftigung mit „irgendwas mit Medien“ eines Berlin-Mitte-Hipsters mitfinanzieren?
Die Beispiele machen zwei Dinge deutlich: Erstens kann eine Wahlentscheidung unabhängig von der Antwort auf die Sachfrage auch von deren Begründung abhängen, die einen Blick aus dem Tagesgeschäft in die Seele einer Partei bietet. Und zweitens kann man als Liberaler ganz offensichtlich nicht davon ausgehen, dass Liberalismus überall in gleicher Form definiert wird. Dass das auch viel mit vorauseilendem Koalitionsgehorsam zu tun hat, konnte man in der Sat-1-Wahldebatte der „kleinen“ Parteien besichtigen, bei der FDP-Chef Christian Lindner klarstellte, dass auch die FDP den Mindestlohn nicht abschaffen wolle. Eine solche Position hinterlässt einen wahren Liberalen kopfschüttelnd: Ob eine Abschaffung durchzusetzen wäre oder man sich von einer solchen Forderung im Rahmen der Konsensfindung würde verabschieden müssen, ist eine Sache; staatliche Gängelung von Unternehmen aber einfach durchzuwinken kann sich keine liberale Partei, die gerne auch von überzeugten Liberalen gewählt werden will, erlauben.
Mir bleiben also bei der Bundestagswahl mal wieder nur die Suche nach dem geringsten Übel und die Hoffnung, dass früher oder später eine libertäre Partei wie die pdv auch bundesweit antritt.
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Klaus Kelle, Chefredakteur