Die Zerstörer
Ein Beschwichtiger ist, wer ein Krokodil füttert,
in der Hoffnung, dass es ihn zuletzt frisst.
(W. Churchill)
Große Literatur, das ist eine Banalität für Erstsemester im literarischen Studium, zeichnet sich darin aus, dass sie die zunehmende zeitliche Distanz zu ihren Lesern nicht spüren lässt. Sie hat kein Verfallsdatum, ist zeitunabhängig aktuell, selbst wenn sie historisch eingekleidet ist. Damit tendiert sie zum Parabolischen, verbirgt also hinter ihren konkreten, zeitbedingten Inhalten Gleichnishaftes für alle Zeiten. Dies verleiht ihr die ästhetische Eignung als verschlüsselte Interpretation individueller, aber auch politischer oder gesellschaftlicher Zustände.
Graham Greenes Kurzgeschichte The Destructors (Die Zerstörer) aus den 1950er Jahren lässt sich als politische Parabel für Heutiges in Politik und Gesellschaft lesen, wenn sie auch nicht für uns heutige Leser geschrieben wurde. Vielleicht ist sie eine mögliche Antwort auf die Frage: Wie ist es psychologisch erklärbar, dass dieses Deutschland mutwilllig, offenen Auges, gegen die Wand gefahren wird?
Die Gefahr ist zu spüren – der Widerstand bleibt aus
Der Inhalt von Greens Kurzgeschichte. England, kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges. Eine Gang von neun Jugendlichen, der Jüngste von ihnen neun Jahre alt, beschließt eines Tages eine außerordentliche Aktion. Ein zwischen zwei Bombenkratern, wie durch ein Wunder nicht völlig zerstörtes Haus, sehr wahrscheinlich von dem historischen Stararchitekten Christopher Wren gebaut, wird von einem alten Mann, „Old Misery“, bewohnt. Das Haus ist freistehend, wurde behelfsmäßig bewohnbar gemacht, die unmittelbare freie Fläche ist zu einem behelfsmäßigen Parkplatz hergerichtet. Der alte Mann beobachtet die jungen Leute beim Ballspiel gegen seine Hauswand und spürt intuitiv die Gefahr, die von ihnen ausgeht. Seine Unterlegenheit vor Augen, versucht er deswegen, sie mit kleinen Geschenken freundlich zu stimmen. Doch die Provokateure erkennen seine Absicht. „Es ist Bestechung“, sagen sie im Gespräch über ihn. „Er will, dass wir nicht mehr mit dem Ball gegen seine Hauswand spielen.“ Sie nützen seine erkannte Schwäche aus und konstatieren: „Wir werden ihm zeigen, dass wir uns nicht kaufen lassen.“ Sie setzen diesen Beschluss um und verbringen einen ganzen Morgen damit, mit einem Ball gegen seine Hauswand zu schießen. Der alte Mann, wie nicht anders zu erwarten, lässt sich nicht blicken und zeigt keine Reaktion.
Am nächsten Tag läutet einer der Jungen an der Tür von und Old Miserys Haus und teilt ihm mit, dass er das Haus besichtigen möchte. Der alte Mann lässt ihn herein, und so nimmt er das Gebäude in Augenschein. Er berichtet anschließend der Gang von den architektonischen Einzelheiten der Innenräume. Nachdem sie erfahren, dass Old Misery zwei Tage verreisen wird, fällt der Entschluss, nicht etwa einzubrechen und zu stehlen, sondern das Haus platt zu machen.
Von außen ist nichts zu sehen, doch innen läuft der Abriss
Ein detaillierter Plan des Anführers der Bande, der Reihenfolge und Art der Abrissaktion im Inneren des Gebäudes genau festlegt, wird punktgenau ausgeführt. Von außen ist nichts wahrzunehmen. „Wir machen das von innen. Wie Würmer in einem Apfel. Wenn dann innen alles zusammengefallen ist, bringen wir abschließend die Wände zum Einsturz.“
Als die Demolierung des Hausinneren abgeschlossen ist, kehrt Old Misery, offensichtlich früher als vermutet, zurück. Aber auch für diesen unerwarteten Fall haben die Zerstörer einen Plan B. Einer von ihnen geht in das dazugehörige, freistehende Klohäuschen und ruft dort um Hilfe. Angeblich, so sagt man Old Misery, könne ihr Freund dort nicht mehr heraus. Der alte Mann fällt auf die List herein. Er will den Jungen befreien und wird dabei selbst von den Zerstörern in das Bretterklo eingesperrt.
Sich ruhig zu verhalten, ändert nichts an der Destruktion
Auf seine Bitte, ihn herauszulassen, reagieren die Täter lediglich mit der zynischen Zusage, ihm nichts zu tun, wenn er sich bis zum Morgen ruhig verhalte. In seiner aussichtslosen Situation fällt dem Eingesperrten ein, dass auf dem Parkplatz ein Lastwagen steht, dessen Fahrer ihn vielleicht am nächsten Morgen befreien könnte.
Tags darauf kommt dieser tatsächlich zu früher Stunde. Als er versucht loszufahren, spürt er Widerstand und bemerkt, wie unter lautem Getöse Dachziegel in seine Richtung fliegen. Als er aussteigt, wird ihm bewusst, dass man den Stützpfosten einer der Wände des alten Hauses an seinen LKW gebunden und so das vorher schon entkernte Gebäude zum Einsturz gebracht hat. Old Misery ruft aus dem Klohäuschen um Hilfe, der LKW Fahrer befreit ihn. Wieder in Freiheit jammert er: „Wo ist mein Haus?“ Der LKW Fahrer kann beim Anblick des Desasters sein Lachen nicht zurückhalten und meint : „Sie müssen zugeben, dass das lustig ist.“
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Klaus Kelle, Chefredakteur