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30 Prozent der untersuchten Fälle falsch bewertet

Münchner Missbrauchsgutachten: Fehlerhaft und ohne Beleg für eine Mitschuld Kardinal Ratzingers

Dr. MATTHIAS LOSERT, LL.M., Berlin

Das Münchener Missbrauchsgutachten, das unter dem Titel „Sexueller Missbrauch Minderjähriger und erwachsener Schutzbefohlener durch Kleriker sowie hauptamtlich Bediensteter im Bereich der Erzdiözese München und Freising von 1945 – 2019“ von der Rechtsanwaltskanzlei Westphal Spilker Wastl aus München veröffentlicht wurde, ist in Teilen grob fehlerhaft. Dieses 2022 veröffentlichte Gutachten geht von einem zu weitreichenden Missbrauchsbegriff aus. Auf Seite 21 wird von den Gutachtern ausgeführt, dass auch Grenzverletzungen „unterhalb der Schwelle der Strafbarkeit“ von ihnen als sexueller Missbrauch gewertet werden. Nach dieser Definition würden auch unangemessene Umarmungen oder ein aufgedrängter Kuss auf die Wange unter den Begriff des sexuellen Missbrauchs fallen.

Von dieser falschen Prämisse ausgehend kommt das Gutachten dann in mehreren Fällen zu Wertungen, die strafjuristischen Standards Hohn sprechen.

So wird auf Seite 459 ein zu freundlichen Umgang mit Schülerinnen und auf Seite 450 scherzhafte Ringkämpfe, gemeinsames Radio-Hören und ähnliche Distanzlosigkeiten als sexuellen Missbrauch bewertet. Ferner wird in einigen Fällen die Unschuldsvermutung nicht korrekt angewandt. Daher gelangt das Gutachten in 30 Prozent der von mir untersuchten Fälle fälschlich zu der Annahme eines sexuellen Missbrauchs. Das war das Ergebnis meiner Master-Arbeit, die ich im Rahmen meines Studiums des Katholischen Kirchenrechts an der Universität Wien verfasst habe. Diese Forschungsarbeit wurde mit der Note „sehr gut“ bewertet und ist am 25. Oktober 2023 im Tectum Verlag erschienen.

Das Münchener Missbrauchsgutachten wurde daher zu Unrecht von vielen Medien gelobt.

Das lässt sich wohl auch durch den Umfang von 1.893 Seiten erklären, was viele Journalisten möglicherweise von einer eigenständigen Lektüre abgehalten hat. Auf der Webseite der Rechtsanwaltskanzlei Westphal Spilker Wastl lässt sich das Gutachten als PDF einsehen, und der Leser kann sich davon ein eigenes Bild machen. Auf den Seiten 444 bis 555 werden dort die einzelnen Fälle dargestellt. 70 Prozent dieser Fälle werden dort zutreffend als sexueller Missbrauch bewertet; 30 Prozent der dargestellten Fälle werden aber grob falsch als sexueller Missbrauch eingeordnet. So etwa bei dem auf Seite 480 dargestellten Fall.

Dort wird das bloße Gerücht, dass ein Priester ein zwölfjähriges Mädchen vergewaltigt hätte, als nachgewiesenen Missbrauchsfall eingeordnet. Das stellt einen Verstoß gegen die Unschuldsvermutung dar. Denn ein ledigliches unbestätigtes Gerücht stellt keinen Nachweis einer Straftat dar.

Auch die Verantwortung der Diözesanbischöfe wird vielfach unzutreffend bewertet.

In vielen Fällen kann den Diözesanbischöfen unter Beachtung der Unschuldsvermutung nicht nachgewiesen werden, dass sie von ihren Untergebenen über Fälle des sexuellen Missbrauchs informiert wurden. Insbesondere kann dem damaligen Papst Benedikt XVI. kein Verschulden während seiner Zeit als Erzbischof von München nachgewiesen werden. So wurde auf Seite 698 des Gutachtens der Rechtsanwaltskanzlei Westphal Spilker Wastl der Fall eines Priesters dargestellt, der wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in drei Fällen strafrechtlich verurteilt wurde.

Hier ignorieren die Gutachter die Unschuldsvermutung und schreiben auf Seite 700, dass „sehr viel dafür spricht“, dass der damalige Kardinal Ratzinger davon Kenntnis hatte. Sie schreiben weiter, dass Kardinal Ratzinger „möglicherweise“ auch die anderen beiden Verurteilungen kannte. Schon nach ihrer eigenen Bewertung müssten die Gutachter hier erkennen, dass man Kardinal Ratzinger, für den wie für jeden anderen Menschen auch die Unschuldsvermutung gilt, keine Kenntnis nachweisen kann. Eine bloße Wahrscheinlichkeit genügt nach rechtstaatlichen Maßstäben aber nicht für einen Tatnachweis.

Es gibt keine Beihilfe zum Missbrauch durch die Diözesanleitung

Die Diözesanleitungen haben sich entgegen den Wertungen des Missbrauchsgutachtens der Rechtsanwaltskanzlei Westphal Spilker Wastl auch nicht wegen Beihilfe zum sexuellen Missbrauch oder Strafvereitelung strafbar gemacht. Die Gutachter meinen zu Unrecht, dass bei der Weiterbeschäftigung eines Missbrauchstäters sich durch den Eventualvorsatz eine Strafbarkeit begründen lässt.

Es gibt aber kein einziges deutsches Gerichtsurteil, das bei Weiterbeschäftigung eines Missbrauchstäters den Vorgesetzten wegen Beihilfe zum sexuellen Missbrauch verurteilt hat. Es gab in der Vergangenheit im außerkirchlichen Bereich viele Fälle des sexuellen Missbrauchs in Kindergärten und Schulen, aber niemals gab es Verurteilungen eines Leiters dieser Einrichtungen wegen Beihilfe zum sexuellen Missbrauch.

Die Rechtsanwaltskanzlei Westphal Spilker Wastl ignoriert die Rechtsprechung

Es wurden auch keine Beamte der Schulaufsicht von den zuständigen Schulämtern oder den Bildungsministerien strafrechtlich verurteilt. Dieser Befund mit den fehlenden Gerichtsurteilen wird von der Rechtsanwaltskanzlei Westphal Spilker Wastl aber völlig ignoriert.

Bei aller Kritik am Münchener Missbrauchsgutachten darf aber auch nicht unterschlagen werden, dass 70 Prozent der untersuchten Fälle zutreffend bewertet wurden. Nur erweisen die Gutachter den tatsächlichen Opfern sexueller Gewalt einen Bärendienst, wenn in 30 Prozent der Fälle solche grotesken rechtliche Bewertungen erfolgen.

AUTOR:

Rechtsanwalt Dr. Matthias Losert, LL.M., Berlin –

www.Matthias-Losert.de

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Klaus Kelle, Chefredakteur