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Ukraineflaggen, so weit das Auge reicht: Über kostenlosen Mut in Deutschland

An vielen Häusern auch in Deutschland: die Fahne der Ukraine als Zeichen der Solidarität.

von JULIAN MARIUS PLUTZ

BERLIN – An jeder Ecke hängt eine Fahne in blau und gelb. Künstler solidarisieren sich, Politiker tragen Ukraine-Schal. Doch oft ist die Solidarität geheuchelt. Denn die gleichen Leute waren 2014 erstaunlich still, als Putin die Krim annektierte. Doch in der Liga der kostenlos Mutigen möchte jeder Mitglied sein, der etwas auf sich hält.

A, 1. September 1939 geschah das, was sich schon lange angekündigte hatte. und doch wäre es vermeidbar gewesen. Truppen Nazi-Deutschlands überfielen Polen, nachdem die plumpe Propaganda, konkret der inszenierte Angriff auf den Sender Gleiwitz funktionierte. Monatelang hatten europäische Diplomaten und Regierungschefs versucht, den Krieg zu verhindern. Doch alles verlief im Sand. Der britische Premierminister Neville Chamberlain, den Hitler als „Wurm“ bezeichnet haben soll, zum Beispiel. Doch das Königreich konnte den Nazis nicht das Wasser reichen. Es war nicht nur schwach, sondern auch der festen Überzeugung, ihre im Elfenbeinturm geschmiedete Appeasement-Politik würde einen Diktator beeindrucken. Ein unverzeihlicher Fehler, der 55 Millionen Menschen das Leben kostete.

Hätte Europa bereits 1939 die Zeichen erkannt, hätte man vielleicht den Holocaust und die vielen Gräueltaten der Nazis verhindern können. Aber man entschied sich, wegzusehen, und den Überfall auf Polen als bedauerlichen Betriebsunfall der Geschichte abzutun. Betriebsunfälle sind unangenehm, aber sie gehören zum Alltag. Erst als der Zweite Weltkrieg im vollen Gange ware und die Öfen in den Konzentrationslagern liefen, solidarisierte sich Europa mit den Opfern. Für viele Menschen kam das zu spät.

Experten sahen den Krieg voraus

Am 18. Mai 2014 annektierte Russland die Krim. In Deutschland herrschte relative Gleichgültigkeit. „Die Krim hat doch schon immer den Russen gehört“, dachten und sagten viele Menschen, die bis dato von der Halbinsel bis auf den gleichnamigen Sekt kaum etwas gehört hatten. Solidaritätsbekundungen für die Ukraine? Fehlanzeige! Ein Kirchentag ganz im Zeichen von Blau und Gelb? Nichts zu sehen davon. Kein Fahnenmeer, keine Demonstrationen, kein konsterniertes Hupen für Kiew, kein deutungsschwangerer Roger Waters, noch nicht einmal ein viral gehender Hashtag auf Twitter. Das Thema ging den Deutschen sprichwörtlich am Allerwertesten vorbei.

Auch die Politik zeigte sich wenig beeindruckt. Zwar wurde verbal verurteilt und gewarnt, allen voran der Uhu von Detmold, Frank-Walter Steinmeier. Das war’s aber auch schon. Nord Stream 2 wurde gebaut. Was hatte man schon zu befürchten?

Debatten fanden 2014 wenig statt. Ich stritt mich damals mit einem Bekannten, der zwar eine andere Meinung hatte als ich, aber zumindest mit mir in einem Punkt übereinstimmte: Das Thema ist zu wichtig, um nicht darüber zu debattieren. Doch die Wenigsten erkannten die Gefahr, die von Putin ausgeht. Die Zeichen konnte man erkennen. Auch Russland-Experten wie Boris Reitschuster, damals noch keine Persona non Grata für die Öffentlich-Rechtlichen, warnten vor der aggressiven russischen Regierung.

Billige PR ohne Substanz

Doch Deutschland machte sich abhängig. Eine Energiewende, die nur durch kompensative Gaskraftwerke aufgrund von Dunkel- und Windflauten existieren kann, braucht die russische Energie. Diesen Fehler hätte man vermeiden können. Kluge Politik hätte dieses Szenario kommen sehen. Aber Deutschland hatte Merkel und Altmaier. Und vor allem die Sozialdemokraten wie Steinmeier und Gabriel, die nie einen Hehl aus ihrer Nähe zu Moskau machten.

Am 24. Februar 2022 griffen russische Truppen die Ukraine an. Der Krieg dauert inzwischen mehr als 100 Tage. Seit Beginn sind die Solidaritätsbekundungen überwältigend in Deutschland. Doch wie glaubhaft ist das alles? Es erweckt den Eindruck, als springen viele auf den Zug des kostenlosen Mutes auf, um PR für die eigene Sache zu machen oder sich selbst ein gutes Gefühl zu verschaffen. Für Pink Floyd wirktHey,Hey rise up“  wie der Versuch einer Entmumifizierung der ergrauten Musiker, als sie das Video eines in der Ukraine unbekannten Musikers nutzten, es mit ihrem Sound zu unterlegen, damit es viral wird. Eine Band, allen voran Bandleader Roger Waters, die im Übrigen kein Problem mit handfestem Antisemitismus hat.

Scheinheilige Solidarität

Dieser Mechanismus erinnert unweigerlich an die disjährige Inszenierung des „Pride Month“. Alle wollen dabei sein, ob C&A oder die Bundesagentur für Arbeit, die einen Monat lang nun Regenbogenfarben als Profilbild hat. Einer möchte im Kampf für das Gute fehlen, und niemand mag als moralisch unrein gelten. Jeder möchte Mitglied in der Liga der kostenlos Mutigen sein. Der Eintritt ist frei, kostet jedoch den Verstand.

Der Angriff auf die Ukraine 2022 hätte verhindert werden können, hätte man 2014 wirklich eingegriffen. Ebenso wie es den Welten-Brandstifter Adolf Hitler 1945 nicht ohne das Versagen der europäischen Mächte 1939 gegeben hätte. Auch wenn die Ereignisse nicht einfach gleichzusetzen sind, so kann man durchaus die Mechanismen vergleichen. Ob 1939 oder 2014 – in beiden Fällen hatte politischer Kleinmut das Aufwerten eines Diktators zur Folge.

Warum hat Putin gewagt, am 24. Februar 2022 die Ukraine anzugreifen? Weil er 2014 gelernt hat, dass sich Europa nicht wehrt. Er ließ angreifen, einfach weil er es konnte. Da helfen auch keine ukrainischen Fahnenmeere.

Das Wort „Solidarität“ ist tot. Es bedeutet nichts, weil nichts dahinter steht. Alle schmücken sich damit, aber kaum einer lebt sie wirklich. Zwar endete die deutsche Appeasement-Politik formal am 24. Februar, acht Jahre zu spät, dennoch bleiben die Bemühungen der Ampel zaghaft. Lieber sonnt sich der ein oder andere Politiker im Schein der Solidarität. Trotz 25 Grad im Schatten tragen sie den gelb-blauen Schal. Deutlicher kann der Schein nicht heilig werden und als Scheinheiligkeit die Doppelmoral vieler Protagonisten dokumentieren.

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Klaus Kelle, Chefredakteur