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In den 20er Jahren gab es andere Sorgen als die Gratismutigen heute haben

Was hätten unsere Großeltern getan?

MICHAEL STING
FOTO: Bundesarchiv Bild 102-03497A | Wahlkämpfer in Berlin 1932.

Aktuell laufen sehr viele Demonstrationen gegen die AFD. Hintergrund ist ein Treffen in Potsdam im November vergangenen Jahres, bei dem über Remigrationspläne gesprochen wurde. Das Nachrichtenjournal Correctiv hatte darüber berichtet.

Nun, es steht jedem deutschen Bürger zu, gegen das zu demonstrieren, gegen das er möchte. Artikel 8 des deutschen Grundgesetzes (GG) verbürgt die Versammlungsfreiheit.

Doch was man teilweise dort zu sehen bekommt, ist eine Frechheit

Besonders beschämend ist ein Plakat, das auf fast allen Demonstrationen zu sehen ist. Dort steht geschrieben: „Jetzt können wir herausfinden, was wir anstelle unserer Urgroßeltern/Großeltern getan hätten.“ Sie beziehen sich damit auf die 20er/30er Jahre des vergangenen Jahrhunderts bis zur Machtergreifung Adolfs Hitlers.

Zunächst einmal ist je nachdem, wer das Schild hochhält, der Spruch ohnehin unpassend. Die Großeltern einer Person um die 20 Jahre werden zu dem Zeitpunkt, wenn überhaupt selbst erst Kinder gewesen sein. Sofern Sie überhaupt geboren worden sind.

Aber unabhängig davon. Die Leute, die heute so etwas sagen und sich hinstellen, als wären sie die Helden der Nation, haben keine Ahnung, was zu dieser Zeit in Deutschland losgewesen ist. Und hätten Sie in dieser Zeit gelebt, hätten Sie sich vermutlich in Ihren Wohnungen versteckt.

Zustände wie in den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts?

Beginnen wir mal mit dem Thema Inflation. Ja die Inflationen Deutschland ist im vergangenen Jahr um 5,9  Prozent gestiegen gegenüber 2022 – das ist nicht schön. Die Preisstabilität liegt laut der Europäischen Zentralbank zwischen 0 bis 2 Prozent.

Doch wie war das in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts? Der Künstler Otto Reutter hat die Situation einmal deutlich beschrieben: „Unsere Wohnung ist jetzt ein Warenlager: zehn Zentner Schinken, halb fett, halb mager, fünf Zentner Tee, zehn Zentner Kaffee, 20 Säcke mit Mehl hab’n wir hingestellt. Wir sind vermehlt bis zum Ende der Welt.“

Zwei Kaffee für 14.000 Mark, eine Theaterkarte für eine Milliarde. Das waren die normalen Preise zu der Zeit. Zigtausend Prozent betrug damals die Inflationsrate – im Monat. Und das zu einer Zeit ohne Taschenrechner. Zu Kriegsbeginn 1914 hatte ein Dollar noch 4,20 Mark gekostet. Danach verlor die deutsche Währung stetig an Wert, vom Herbst 1922 an sackte sie ins Bodenlose. Im November 1923 gab es für einen Dollar 4,2 Billionen Mark.

Massenarbeitslosigkeit und Börsencrash

Eine Massenpanik an den Börsen führte am 24. Oktober 1929 zum folgenreichsten Börsencrash der Geschichte, der viele deutsche Vermögen vollständig vernichtete und die deutsche Wirtschaft ruinierte. Mit gravierenden Folgen für die Arbeitnehmer. Die Arbeitslosigkeit wuchs von 8,5 Prozent im Jahr 1929 auf 29,9 Prozent im Jahr 1932 an. Den Höchststand erreicht sie im Februar 1932 mit über sechs Millionen Arbeitslosen. Die Arbeitslosigkeit unter den Gewerkschaftsmitgliedern ist noch dramatischer. Sie klettert in der Weltwirtschaftskrise 1930 von 22,2 Prozent auf 43,7 Prozent im Jahr 1932.

Kriegstrauma

Die deutsche Bevölkerung litt immer noch unter den Folgen des Ersten Weltkriegs. Millionen Tote, Hungersnot. Kälte. Dazu kamen noch die Forderungen von Reparationen sowie der Versailler Vertrag. Ein Vertrag, der Deutschland nicht nur finanziell und militärisch schwächte, sondern Deutschland die alleinige Kriegsschuld gab und damit das Land demütigte.

Besetzung durch fremde Nationen

Im Januar 1923 besetzten dann auch noch französische und belgische Truppen das Ruhrgebiet, wegen eines geringen Lieferrückstands deutscher Reparationen. Die deutsche Regierung rief daraufhin die Menschen im wichtigsten Industrierevier des Landes zum passiven Widerstand auf. Ein Generalstreik legte Produktion, Verwaltung und Verkehr lahm. Dieser Trieb wiederum die Inflation an.

Kommunistische und rechtsradikale Schlägertrupps

Straßenschlachten zwischen politischen Verbänden untereinander oder gegen die Polizei gerichtet prägten viele Stadtbilder. Beispiel Anfang Mai 1929.

Die sozialdemokratische Regierung von Preußen, zuständig für die Polizei in Berlin, hatte ein striktes Demonstrationsverbot erlassen, das die KPD jedoch vorsätzlich und offen missachtete. In der aufgeladenen Atmosphäre reagierten Polizeibeamte falsch und gaben Warn-, teilweise sogar gezielte Schüsse ab. Die Bilanz war blutig: Die bewusst von der KPD herbeigeführte Eskalation kostete 33 Menschen das Leben, weitere knapp 250 wurden verletzt, darunter ein Fünftel Polizisten.

Gleichzeitig attackierten Nationalsozialisten und speziell die Schlägertrupps der SA den politischen Gegner, also Kommunisten und Sozialdemokraten, sowie besonders häufig und brutal, tatsächlich oder vermeintlich jüdische Bürger.

Politisches Chaos

Zu den ganzen anderen Umständen kommt noch die politische Unsicherheit in Deutschland. Allein zwischen 1919 und 1933 gab es neun Reichstagswahlen.  Dazu kommt noch der Reichstagsbrand am 27 Februar 1933, worauf die Verordnung des Reichspräsidenten „zum Schutz von Volk und Staat“ (Reichstagsbrandverordnung) erlassen wurde. Eine de facto Aufhebung aller Grundrechte.

Ich wage  zu behaupten, dass die Menschen, die heute so mutig tun, sich damals nicht besser verhalten hätten. Denn viele folgen immer noch dem, was Ihnen die Massen und die Politik sagen. Oder wie Bertolt Brecht es formuliert hätte:

„Hinter der Trommel her
Trotten die Kälber
Das Fell für die Trommel
Liefern sie selber.“

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Klaus Kelle, Chefredakteur