Immer mehr Gewalt, immer mehr Armut: Der Kampf dagegen sollte Staatsziel Nr. 1 sein
Liebe Leserinnen, liebe Leser,
ein ganz normaler Tag in Deutschland.
Im Gelsenkirchener Stadtteil Schalke wird ein 14-Jähriger von fünf Unbekannten mit einem Baseballschläger zusammengeschlagen und schwer verletzt. Wir lesen das in der Zeitung und gehen zur Tagesordnung über.
An der Bigge-Lenne-Gesamtschule in Finnentrop ist seit Montag wieder Präsenzunterricht, endlich. In der großen Pause strömen die Kinder gleich am ersten Tag johlend und lachend auf den Schulhof. Plötzlich entbrennt zwischen mehreren Jungen (16, 17) ein Streit, die Stimmung kippt, einer zieht ein Messer und sticht zu. Drei seiner Mitschüler stürzen zu Boden, zwei schweben in Lebensgefahr, werden mit Rettungswagen in eine Klinik gefahren.
Bereits im Dezember vergangenen Jahres wurde ein sechsjähriges Mädchen aus einer Wohnung in Halle/Saale entführt. Die Eltern hatten die Kleine schlafen gelegt und ein Fenster gekippt. Ein 25-Jähriger, selbst Vater eines Kindes, sieht das, steigt in das Zimmer ein. Er hebt das Mädchen aus dem Bett, als sie wach wird, sagt er, er sei ihr Stiefbruder und sie würden jetzt an der Saale Entennester anschauen.
In einer Seitenstraße vergeht er sich an dem Kind, das nur einen Schlafanzug trägt, läuft dann mit ihr auf dem Arm durch die Innenstadt und wirft das Kind schließlich in die eiskalte Saale. Zuvor hatte er bereits versucht, das Mädchen mit einem Schal zu erdrosseln. Die Kleine überlebt nur, weil zufällig zwei Jogger, die zu früher Stunde unterwegs sind, ihre Schreie hören und zur Hilfe eilen.
Ich erzähle Ihnen diese drei Fälle, weil wir uns in der Redaktion zufällig gestern damit beschäftigt haben. Zur gleichen Zeit gab es überall in Deutschland vergleichbare Ausbrüche von sinnloser Brutalität. Jeden Tag gibt es so etwas. Brutale Gewalt, oft unterhalb des ohnehin schwindenden Radars dieser Gesellschaft. Oft am unteren Rand unserer Wohlstandsgesellschaft, deren Politiker sich damit beschäftigen, ob man noch mit dem SUV in Innenstädte fahren dürfen soll. Oder ob eine Handvoll „Goldröcke“ qua Quote Topjobs in Konzern-Aufsichtsräten zugeschanzt bekommen. Die Maßstäbe in diesem Land verschieben sich auf ekelerregende Weise.
Fast jeden Tag schreibe ich an dieser Stelle für Sie über Ereignisse, die negativ sind, schockierend, oft widerwärtig. Und glauben Sie mir, ich würde gern mal etwas Positives schreiben, das Ihr Herz wärmt am frühen Morgen. Aber ich finde nichts. Armut und nackte Gewalt breiten sich nach meiner subjektiven Wahrnehmung in diesem Land aus. Subjektiv ja, aber auch faktenbasiert, denn jeden Morgen lese ich Polizeiberichte aus 15 Regionen Deutschlands. Und ich darf, ich muss da lesen, was hier alles los ist. An jedem gottverdammten Tag. In diesem Land, in dem wir es uns eigentlich richtig schön machen könnten, wenn wir fähig wären – wenn unsere Politiker fähig wären – für Sicherheit zu sorgen und dafür, dass Menschen nicht mit ein paar Plastiktüten und einer Decke am Straßenrand der Düsseldorfer Einkaufsmeile mit ihren großen Schaufenstern und den schicken Geschäften mit den internationalen Modelabels schlafen müssten.
Ich bin, wie Sie vielleicht schon bemerkt haben, alles andere als ein Sozialist. Ich bin für die Freiheit und halte den Kapitalismus für das beste Wirtschaftsmodell auf diesem Planeten. Aber im christlichen Abendland sollte – wie man so schön sagt – niemand zurückgelassen werden. Nicht die Armen, nicht die Schwachen und schon gar nicht kleine Kinder. Diese Dinge in den Griff zu bekommen, das ist wichtiger als Gendersternchen und Transgender, wichtiger als Greta Thunberg und Profifußball. Das sollte die Staatsaufgabe Nummer 1 sein: Niemanden zurücklassen und die Schwachen beschützen.
Passen Sie auf sich auf!
Ihr Klaus Kelle
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Klaus Kelle, Chefredakteur