„Brandmauer“? Warum mir Friedrich Merz wie die Vicky Pollard der deutschen Politik vorkommt
von THILO SCHNEIDER</s
BERLIN – Die Älteren unter uns werden sich noch erinnern: So um die 2010er gab es eine wunderbare britische Serie mit untergriffigen, homophoben, sexistischen, primitiven und elenden Sketchen: „Little Britain“. Heute so nicht mehr mach- und sendbar. Der heimliche Star in „Klein Britannien“ war die Figur „Vicky Pollard“, eine absolute Unterschichtentussi, dumm und gewalttätig, ungepflegt und immer im Jogginganzug, die auf unbequeme Fragen wortreich und hastig stammelnd ungefähr so (aus dem Gedächtnis) antwortete: „Aber ja, aber nein, aber ja, aber nein, aber oh mein Gott, ich wusste, dass sie das fragen würden, aber glauben Sie kein Wort, es ist nicht wahr, dass ich Sandy die Fleischgabel durch die Hand gerammt habe und wenn Ihre Zeugen das behaupten, dann glauben Sie das nicht, denn nur weil Sandy meinem Freund hinter der Eisdiele einen von der Palme gewedelt hat, würde ich sie doch nicht anzünden!“ Klingt wirr? War es auch – und deswegen unglaublich komisch.
Ich habe den Eindruck, dass Friedrich Merz die Vicky Pollard der deutschen Politik ist.
Am vergangenen Sonntag stellte Friedrich Merz im ZDF bei „Berlin direkt“ fest, dass es nach der Wahl des AfD-Landrates Sesselmann in Sonneberg „natürlich zur Zusammenarbeit auf kommunaler Ebene kommen kann“. Aber ja!
Das Verbot einer Zusammenarbeit beziehe sich auf gesetzgebende Organe sowie auf Länder- und Bundesebene. Aber nein!
Dann, auf erneute Nachfrage, ob Merz damit die berühmte Berliner Brandmauer aufgebe, aber natürlich nicht, aber auf kommunaler Ebene schon, weil da „auf kommunaler Ebene“, die Politisierung ohnehin ein bisschen zu weit fortgeschritten ist.“ Aber – oh mein Gott, ich wusste, dass Sie mir diese Frage stellen!
Hui. Die Brandmauer. Sie fällt. Sie hat Lücken. Stante pede fielen SPD- und Grünenpolitiker reihenweise in Ohnmacht, die Presse explodierte und schrieb Amok. So hat das Dritte Reich auch angefangen. Jawohl!
Sawsan Chebli, das gelungene Musterbeispiel einer intelligenten SPD-Politikerin, beispielsweise meinte, sie hoffe, das sei das Ende von Friedrich Merz, denn „alles andere ist Deutschlands Ende“. Katja Mast, SPD, meint auf Twitter: „Man muss heute festhalten: Die vielzitierte „Brandmauer gegen rechts“ der Union ist aus Pappmaché gebaut.“ Damit nicht genug, denn: „Die AfD ist keine normale Partei. Sie will die Demokratie zersetzen – egal ob kommunal, im Land oder im Bund.“
Aber oh mein Gott
Friedrich Merz pfeift der Gegenwind, auch aus der ausgemerkelten CDU NRW, über die Halbglatze und er fällt, wie stets, wieder um: „Um es noch einmal klarzustellen, und ich habe es nie anders gesagt: Die Beschlusslage der CDU gilt. Es wird auch auf kommunaler Ebene keine Zusammenarbeit der CDU mit der AfD geben.“ Aber nein.
Was ist aber jetzt die Konsequenz? Wird der Kindergarten in Hinterzüchau jetzt nicht gebaut, weil die AfD für den Antrag gestimmt hat? Werden die Straßenschäden in der „Karl-Liebknecht-und-Rosa-Luxemburg-und-der-andere-Revolutionär-Straße“ nun nicht behoben, weil die AfD die Löcher zuasphaltieren möchte? Wird die Sonnenuhr in Sonneberg auf Sommerzeit umgestellt, weil die AfD bemerkt hat, dass die Uhr eine Stunde nachgeht? Gibt es vor dem Rathaus nun rote Nelken, wenn ein AfD-Gemeinderatsmitglied für rote Rosen abgestimmt hat? Was soll der Unsinn? Worum geht es denn hier?
Vor allem: Wie sieht es bei den Genoss- und Innen und den Freund- und Innen aus?
In saarländischen Blieskastel sollte im Januar 2023 die Grünen-Beigeordnete Lisa Becker ihres Amtes enthoben werden. Ging aber nicht – den ein AfD-Beigeordneter hatte den Humor, für einen Verbleib der Stellvertreterin des SPD-Bürgermeisters zu stimmen. Lisa Becker denkt auch nicht an Rücktritt und bleibt weiter im Amt. Dank AfD. Wo ist hier der Aufschrei?
Im baden-württembergischen Backnang gaben CDU-, SPD- und Grünen-Stadträte 2022 einem Antrag der AfD auf mehr Geld für das städtische Theater statt. Wo war da die „Brandmauer“? Wo der entsetzte Aufschrei?
Der Linke-Bürgermeister von Pankow, Sören Benn, konnte 2021 nur durch AfD-Stimmen in sein Amt kommen.
Die ZEIT hat mehr als 40 Fälle gefunden, in denen CDU, Grüne, SPD und Linke auf kommunaler Ebene mit der AfD gestimmt haben oder ihre Anträge nur mit Hilfe der AfD durchbekamen.
Worum geht es also? Geht es wirklich um die kreuzdämlich-populistische „Brandmauer“? Oder geht es vielmehr darum, Friedrich Merz und die Konservativen in der Union zu disziplinieren und klein zu halten?
Wäre Friedrich Merz nicht wie Vicky Pollard, hätte er den Cheblis und Masts dieser Republik diese Fälle kalt lächelnd und mit Sekt zuprostend unter die Neugiernasen gerieben. Da er aber einen politischen Jogginganzug trägt, lautet sein Kommentar im Grunde sehr wortreich und stammelnd: „Aber ja, aber nein, aber ja, aber nein, aber oh mein Gott, ich wusste, dass Sie mich das jetzt fragen, aber glauben Sie Bodo Ramelow kein Wort, denn der wollte Neuwahlen machen, weil Kemmerich mit AfD-Stimmen Ministerpräsident geworden ist und dann zurücktreten musste, weil eine solche Wahl sofort rückgängig gemacht werden musste, weil Susanne Henning-Wellsow schon Blumen zur Gratulation zur Wahl zum Ministerpräsidenten für Bodo Ramelow gekauft hatte und die dann Thomas Kemmerich geben musste, weswegen sie ihm das Kraut vor die Füße geworfen hat und bis heute gab es keine Neuwahlen in Thüringen!“
Aber ja, aber nein, aber ja, aber nein, aber oh mein Gott!
(Weitere wortreiche Artikel des Autors unter www.politticker.de)
Von Thilo Schneider ist in der Achgut-Edition erschienen: The Dark Side of the Mittelschicht, Achgut-Edition, 224 Seiten, 22 Euro.
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