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Guten Morgen, Deutschland!

von THOMAS PAULWITZ

„Postfaktisch“ ist also das Wort des Jahres 2016. Angela Merkel will es noch einmal wissen. Die Gesellschaft für deutsche Sprache steht ihr dabei zur Seite und setzte am vergangenen Freitag das Kanzler-Wort „postfaktisch“ auf den ersten Platz. Der Kampf um die politische Macht ist auch ein Kampf um die Sprache. Für Franz-Josef Strauß war „der Kampf um die Sprache eine der wesentlichsten Voraussetzungen für die geistige Selbstbehauptung.“ Wer es versteht, in der öffentlichen Diskussion eigene Wörter dauerhaft zu plazieren, der erzielt einen Vorteil im Ringen um die Deutungshoheit. Der völlige Sieg ist errungen, wenn der politische Gegner das Wort schließlich übernimmt.

Der „Gutmensch“ und die „Leitkultur“ sind Beispiele für derzeit umkämpfte Begriffe. Der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki versucht verzweifelt, mit Hilfe von Sprühaktionen, dem Wort „Gutmensch“, das zum Spottwort gediehen ist, wieder einen positiven Klang zu verleihen. Ein Gutmensch ist für die meisten ein Pharisäer, der sich nur als guter Mensch ausgibt, aber in Wirklichkeit keiner ist. Für seinen politischen Feldzug „zusammen gut“, der ein Jahr lang dauern soll, hat Woelki 40 Gruppen hinter sich versammelt, vom Bund der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ) bis zur Caritas. Vergangene Woche zwang die bayerische SPD den Landtag zu einer Debatte bis in die frühen Morgenstunden, um hinauszuzögern, daß das Wort „Leitkultur“ in Gesetzesform gegossen wird.

Solche politischen Aktionen sind freilich zum Scheitern verurteilt, weil die Schlacht schon verloren ist. Das Pferd, auf dem Woelki und die SPD reiten, ist bereits tot. Das erfolgreiche Setzen von Schlagwörtern geschieht gewöhnlich auf ganz andere Weise, nämlich vorgreiflich. Der Erfolg ist jedoch auch dann nicht gewiß. Auch Angela Merkel versucht gelegentlich, die politische Tagesordnung mit Schlagwörtern zu bestimmen. Das erste Mal ist ihr das gründlich mißglückt, als ihr das Machtwort „alternativlos“ entglitt und sich sogar in Form einer neuen Partei gegen sie wandte, die sich zu allem Überfluß auch noch „Alternative“ nennt. Auch das zweite Mal ging in die Binsen. „Wir schaffen das“ geriet zum Spottspruch, weswegen sich selbst Bundespräsident Joachim Gauck veranlaßt sah, in seiner Wackelpudding-Sprache zu erklären: „Was die Bevölkerung dann, zum Teil jedenfalls, etwas verunsichert haben mag, ist, daß das ‚Wie wir es schaffen‘ manchmal nicht gleich deutlich wurde.“

Nun unternimmt Merkel mit dem Wort „postfaktisch“ einen dritten Versuch. Nach der krachend verlorenen Wahl in Berlin warf sie es am 19. September dieses Jahres in die Diskussion. Im deutschen Sprachgebrauch war das Wort „postfaktisch“ zuvor nahezu unbekannt. Das ist zunächst ein Vorteil für den, der das Schlagwort setzen und verankern möchte: Er kann eine inhaltsleere Worthülse zu einhundert Prozent mit der eigenen Ideologie auffüllen. Wie das geht, können wir an „Gender Mainstreaming“ sehen.

Die vor allem mit Steuermitteln finanzierte Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) erklärt zu „postfaktisch“, daß es „heute zunehmend um Emotionen anstelle von Fakten geht. Immer größere Bevölkerungsschichten sind … bereit, Tatsachen zu ignorieren und sogar offensichtliche Lügen bereitwillig zu akzeptieren.“ Doch an der Frage „Was ist Wahrheit?“ ist bereits Pontius Pilatus gescheitert (Joh 18,38). Jede Münze hat zwei Seiten, oder, gemäß Tucholsky: „Wat dem eenen sin Uhl, is dem annern sin Nachtigall, und welch schöne Sache ist doch der Krieg!“ Das Wort „postfaktisch“ ist natürlich nicht auf dem Mist des Kanzleramts gewachsen. Wie bei so vielem Politischen liegt sein Ursprung in den Vereinigten Staaten, wo es als „post truth“ in Umlauf kam. Die Bezeichnung geht auf den Buchtitel „The Post-Truth Era“ (2004) von Ralph Keyes zurück.

Der Begriff unterstellt einem Großteil der Bürger, daß sie sich nicht von Tatsachen, sondern von Gefühlen leiten lassen. Daß sich bei einem Menschen die beiden Dinge nie völlig voneinander trennen lassen, wird dabei vernachlässigt. Den Regierenden liefert der Begriff jedenfalls eine bequeme Erklärung für Wahlniederlagen und dafür, nicht auf den Willen der Bürger Rücksicht nehmen zu müssen. Er ist somit in seinem Ansatz zutiefst undemokratisch.

Während der Begriff in den USA dem Clinton-Lager dazu dienen sollte, den Wahlkampf von Donald Trump zu schwächen, nutzte ihn in Großbritannien das EU-Lager, die Abstimmung für den sogenannten „Brexit“ erklären zu können. Die Redaktion des Oxford Dictionary rief daher im November „post truth“ zum „Word of the Year 2016“ aus. Die GfdS schloß sich nun an.Im englischsprachigen Ausland ist der Begriff als Machtwort bereits gescheitert. Trump wird Präsident, und der „Brexit“ ist beschlossen. Daher mutet es lächerlich an, wenn die GfdS jetzt helfen will, das tote Pferd, auf das sich Merkel gesetzt hat, wiederzubeleben.

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Klaus Kelle, Chefredakteur