Journalisten haben nicht die Pflicht, geliebt zu werden
Liebe Leserinnen und Leser,
eine langjährige Facebook-Freundin hat mir gestern die Freundschaft gekündigt. Weil sie für den Frieden ist. Und weil wir in dieser Zeitung einen Bericht über die NATO-Konferenz in Washington veröffentlicht hatten. Also, einen Artikel, keinen Kommentar. Einfach nur abgebildet, was die da in Washington beschlossen haben. Ob es uns gefällt oder nicht.
Spontan fiel mir da eine zornige Leser-Mail während der Corona-Zeit wieder ein, als mir jemand schrieb, wieso wir denn über eine Pressekonferenz von Gesundheitsminister Karl Lauterbach berichtet hätten.
Die Antwort fiel leicht: Weil er Gesundheitsminister ist
Und als solcher der Verantwortliche in der deutschen Bundesregierung für diesen wichtigen Bereich. Ich habe ihn nicht gewählt, ich habe die ganzen Ampelparteien nicht gewählt bei der Bundestagswahl. Aber jetzt sind sie nun mal da, wie Merkel sagen würde.
Ernsthafter Journalismus ist wichtig für das Funktionieren einer Demokratie. Nur der Bürger, der seriös informiert wird, kann sein Leben so einrichten, wie er oder sie es möchte. Nur, wer seriös informiert wird, hat eine Grundlage für seine persönliche Entscheidung in der Wahlkabine.
Und nur, wer schonungslos die Wahrheit gesagt bekommt, ist informiert, was läuft
Der Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, Christoph Heusgen, zum Beispiel, warnt und warnt und warnt, was gerade passiert. Er kritisiert zum Beispiel den Großteil der Bundesregierung für ihre Kommunikation zum Ukraine-Krieg. „In Deutschland redet der Verteidigungsminister Tacheles und spricht davon, dass wir kriegstüchtig werden müssen.“ Dessen Kabinettskollegen unterschätzten aber immer noch den Ernst der Lage, sagt Heusgen.
„Ich habe bis heute das Gefühl, dass die meisten verantwortlichen Politiker glauben, dass sie der Bevölkerung keinen reinen Wein einschenken und sagen können: ‚Wir haben es mit einer Aggression wie im Kalten Krieg zu tun'“, beklagt er. Kremlchef Wladimir Putin habe sich zum Ziel gesetzt, die alte Sowjetunion wiederherzustellen. „Bei uns wird das alles noch immer ein bisschen heruntergespielt“, so Heusgen „Man muss den Menschen reinen Wein einschenken und ihnen klar sagen, was Russland alles an Verträgen gebrochen hat, wie Russland aufrüstet, dass Russland in Kaliningrad nuklearfähige Raketen stationiert hat, die Deutschland erreichen können.“
Ja, will niemand wirklich hören sowas. Ist aber leider genau so
Was ich bei Ihnen in Erinnerung rufen möchte: Journalismus ist nicht, das zu schreiben, was das Publikum gerne hören will. Journalismus ist das schonungslose Abbilden der Wirklichkeit, selbst wenn sie Ihnen und mir nicht gefällt. Natürlich will ich Frieden, was ist denn das für eine Frage? Natürlich will ich Meinungsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit. Natürlich will ich, dass Olaf Scholz, Robert Habeck & Co. morgen in den Vorruhestand gehen.
Aber wenn das alles nicht passiert, müssen wir trotzdem weiter berichten, die Wirklichkeit abbilden. Unser Titelaufmacher gerade ist eine Analyse zur US-Präsidentschaftswahl von Dr. Stefan Gehrold, unserem wunderbaren Korrespondenten in den USA. Er schreibt, dass es gut möglich ist, dass Biden im November wieder gewinnt. Werben wir für Biden? Wollen wir eine weitere Amtszeit für Joe Biden im Oval Offive? Ich ganz sicher nicht, und Stefan sicher auch nicht.
Aber was wir wollen ist nicht maßgeblich
Unser Job ist es, die Wirklichkeit abzubilden, unbestechlich, seriös. Sonst nichts. Wenn Sie nur das Lesen wollen, was ihren Überzeugungen oder Parteipräferenzen entspricht, dann sind Sie hier falsch. Mein Motto ist eher das des früheren britischen Zeitungsverlegers Cecil King. Der sagte einmal: „Ein Journalist hat nicht die Pflicht, geliebt zu werden. Aber er hat die Pflicht, gelesen zu werden.“ Und genau das wollen wir.
Ihnen allen einen schönen Tag!
Klaus Kelle
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Klaus Kelle, Chefredakteur