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Man möchte lachen, doch es bleibt einem im Halse stecken – Desinformation auf TikTok

ARCHIV – TikTok auch eine Plattform für Desinformtion. Foto: Kiichiro Sato/AP/dpa

von MARTIN D. WIND

BERLIN – Seit Putins Terrorkrieg gegen die Ukraine versuchen Menschen, die Verantwortung für Krieg, Leid und Tod vom Diktator im Kreml wegzunehmen und wahlweise „die Amis“, „die NATO“ und/oder „den Westen“ schuldig zu sprechen. Exemplarisch wird das mit einem Video eines „vincent.nr.5“ analysiert. Vincent betreibt einen Kanal auf TikTok, hat dort rund 550.000 Abonnenten und erfährt für seine Thesen reichlich Zuspruch. Er behauptet, er sei liberal und ordnet sich parteipolitisch bei der FDP ein.

Vincent kündigt an, er wolle die „eiskalte Wahrheit über den Ukraine-Konflikt“ darstellen. Er beginnt mit einer Rede Putins 2001 im Bundestag. Putin präsentiert sich damals als Freund. Seine andere Seite zeigte er aber schon 1999, als er einen Krieg gegen Tschetschenien begann. Begründung: Terroranschläge tschetschenischer Terroristen. Heute weiß man, dass der russische Inlandsgeheimdienst (FSB) die Anschläge fingiert hatte. Putin war bis zum Eintritt in die Politik Leiter des FSB. Warum dieser Krieg vor allem gegen die Bevölkerung und Infrastruktur geführt wurde, bis russlandhörige Despoten als Staatschefs installiert waren, bleibt Putins Geheimnis.

2005 konnte man einen unverstellten Blick auf die Hintergründe des Geheimnisses werfen: Ex-KGB-Agent Putin bezeichnete den Zerfall der Sowjetunion öffentlich als „größte geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts“. Diese „Tragödie“ müsse rückgängig gemacht werden. Das erklärt auch die Militäreinsätze gegen Georgien und die Republik Moldau: Für Putin gilt jedes Stück Boden, das je von russischen Stiefeln berührt wurde, als zu Russland gehörig.

Daher kommt auch sein Spruch von 25 Millionen Russen, die seit dem Zerfall der UDSSR „jenseits der Grenze“ leben müssten. Und so erklären sich die Destabilisierungsversuche gegen die Ukraine, die 2014 im Auftauchen „grüner Männchen ohne Hoheitsabzeichen“ gipfelten, die in ihrem militärischen Vorgehen frappierend an die Taktiken der russischen Spezialeinheit SPEZNAS erinnern. Spätestens hier hatte Putin seinen nie erklärten Krieg gegen die Ukraine öffentlich gemacht.

Vincent verschweigt das. Warum?

Stattdessen erklärt er einen Redeausschnitt eines Gründers eines Thinktanks – George Friedmann – zur amerikanischen Staatsdoktrin. Der hatte behauptet, amerikanisches Interesse sei es schon immer gewesen, Deutschland und Russland separiert zu halten. Friedmanns Aussage ist historisch falsch. Vincents Behauptung, das sei Leitlinien amerikanischer Politik, ist ungefähr so tragbar, wie wenn man behaupten würde, die Leitung der (grünen) Böll-Stiftung gäbe die Leitlinien deutscher Politik vor.

Nun führt Vincent die Kündigung des ABM-Abkommens (Anti-Ballistic Missile) als „Eskalation“ seitens der NATO gegenüber Putin an. Dabei war der Vertrag weder von der NATO (sondern von den USA) mit der UDSSR geschlossen worden, noch war er unkündbar. Bush jr. kündigte vertragsgemäß nach 9/11 wegen der veränderten sicherheitspolitischen Weltlage: Man musste damit rechnen, dass Terroristen sich Raketen besorgen würden – der Iran zeigt gegen Israel, dass das keine Vision ist – und dagegen wollen die USA sich wappnen. Putin hat öffentlich erklärt, dass er darin keine Bedrohung sehe.

Das unterschlägt Vincent. Warum?

Ähnlich unterschlägt und verdreht er bei der Schilderung des Umgangs mit dem KSE-Vertrag (Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa). Er behauptet, die NATO sei 2004 vom KSE zurückgetreten. Das ist falsch. Die NATO hat einen neuen Vertrag – A-KSE genannt – nicht ratifiziert, den Putin vorbereitet hatte, mit dem Ziel sich bessere Bedingungen für die Vorbereitung seiner militärischen Agitation zu schaffen. Putin hatte sich nie an die Vorgaben des KSE gehalten. 2015 – nach dem Einmarsch in den Donbas und die Annektion der Krim kündigte Putin den Vertrag. Vincent stellt also von Grund auf falsche Behauptungen auf.

Und so geht das weiter

Fünf Minuten Desinformation, nicht die Wahrheit, dafür Verdrehungen und Falschdarstellungen. Was für eingefleischte Putin-Apologeten nicht fehlen darf, ist der Hinweis, dass der Schauspieler an der Spitze der ukrainischen Regierung korrupt sei. Man fragt sich, wie abgestumpft der Verfasser des Videos gegenüber der durch und durch kriminellen und korrupten KGB/FSB-Oligarchenseilschaft Wladimir Putins sein muss, wenn man dessen verkommene Selbstbereicherung offenbar nicht wahrnehmen kann.

Wer so mit Fakten umgeht, der empfindet auch die Entsendung von 4000 NATO-Soldaten in die baltischen Staaten zu einem befristeten Manöver als Aggression. Als Aggression gegenüber einer aggressiven Macht mit einem aggressiven Despoten an der mafiösen Regierungsspitze, die an der Westgrenze ständig rund 130.000 Soldaten unter „scharfer Bewaffnung“ bereithält, die aus dem Stand innerhalb 24 Stunden einsatzfähig sind. Die NATO benötigte für eine ähnliche Gefechtsbereitschaft gut und gerne 14 Tage.

Man kommt sich auf den Arm genommen vor, wenn Vincent dramatisch in die Kamera ruft: „Wo ist Russland bitte bisher der Aggressor“ gewesen. Man möchte lachen und dann bleibt es einem vor Entsetzen doch im Halse stecken. Es gibt weitere hanebüchene Behauptungen, die wegen der Textfülle nicht dargestellt werden können. Das Video zeigt aber – auch wegen seines Zuspruchs und der Beliebtheit – wie leicht uninformierte Massen von solcher Propaganda beeinflussbar sind und wie wenig Interesse an seriöser Information besteht, solange das pfleglich aufgebaute Weltbild bedient werden kann.

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Klaus Kelle, Chefredakteur