Im Holzwurm
Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser!
Nach dreieinhalb Stunden Autofahrt, weitgehend auf der A2 von Osten Richtung Westen bin ich gedanklich immer noch nicht am Ende meiner Denksportaufgabe. Wie um alles in der Welt kommt jemand, der eine Gaststätte eröffnen will, auf den Gedanken, seinen Laden „Holzwurm“ zu nennen? Ich meine gut, im Ländle heißen gefühlt 75 Prozent der Gasthöfe entweder Zum Kreuz, Schwan oder Zum Adler. Nervt auch irgendwie die Eintönigkeit. Aber „Holzwurm“? Sind die deppert?
Der Holzwurm gehört zur Familie Anobium punctatum, sieht im wirklichen Leben echt richtig eklig aus und nach der Mythologie gilt sein Klopfgeräusch als böses Omen und Vorzeichen eines nahenden Todes. Deshalb vorweg die gute Nachricht: Wir haben es überlebt gestern Abend im „Holzwurm“ in einer Stadt, die man in Niedersachsen wohl für eine Großstadt hält. Aber wir hätten das mit der Mythologie vom Holzwurm ernster nehmen sollen.
Wenn Sie eine Gaststätte betreten, um eine Kleinigkeit zu essen, ein Bier zu trinken und ein gutes Gespräch zu führen, und die einzigen anderen Gäste sind zwei ältere Herren an einem anderen Tisch, die dort Schach spielen und Tee trinken – ehrlich, das müssten sich eigentlich automatisch die Nackenhaare aufrichten. Und dann nirgendwo ein Kellner, auch hinter der Theke kein Mensch. Überall Lichterketten, die aber nicht eingeschaltet sind, vermutlich wegen der Strompreise.
Es ist saukalt in der Bude, wir probieren mehrere Tische aus, um einen Platz zu finden, wo es nicht so kühl durchzieht. Bevor irgendwann der Maître de Cuisine doch noch erscheint, ziehe ich mich kurz zurück aufs Herren-WC, wo mir ein wirklich beißender und atemberaubender Uringestank entgegenschlug. Männer ziehen das trotzdem durch, und so kehrte ich an unseren Tisch zurück, wo erfreulicherweise meine Gesprächspartnerin und zwei frisch gezapfte dunkle Köstritzer auf mich warteten, was meine Stimmung spürbar aufhellte. Im „Holzwurm“ gibt es türkische Spezialitäten, Köfte, gebratene Auberginen, weicher Ziegenkäse mit Pflaumen – keine Ahnung, ob sowas je ein Türke wirklich mal zubereitet hat. Aber bis auf die trockenen Stücke einer Aufbackpizza von JA war das gereichte Essen wirklich ok.
Wir hatten viel zu quatschen am Abend, trotz der usseligen Bude war es ein schöner und kurzweiliger Abend. Um 21.15 Uhr rief der Chef zu uns, den inzwischen einzigen Gästen, herüber, er würde nun gern kassieren, da er müde sei. Das verstanden wir, auch wenn ja eigentlich an der Tür steht, dass bis 22 Uhr geöffnet sei. Aber was soll’s? Bisschen Füße vertreten noch, paar Anekdoten erzählen, war prima.
Warum erzählt er uns das, werden sich manche von Ihnen jetzt wieder mal zurecht fragen, aber das ist leicht zu beantworten. Wenn man mit sympathischen Menschen beieinander sitzt, gute Gesprächsthemen und kaltes Bier hat, ist eigentlich egal, wie der Schuppen heißt und ob die Lichterketten funktionieren. Mit fielen dann auf der Rückfahrt noch denkwürdige Kneipenabende in meinem Leben ein, die auch unvergesslich sind. Wie irgendwann Anfang 1990 in einer verranzten Kneipe in Kreuzberg wo wir uns mit Tequilla (braun, Zimt, Orange) zuschütteten und uns lautstark über die Vor- und Nachteile der sich abzeichnenden Deutschen Einheit anbrüllten. Oder vor drei Jahren nach Mitternacht in einer linken Spelunke in Hamburg mit lauter Musik, wo tatsächlich Mäuse zwischen den Tischen rumflitzten. Und wir am Stehtisch mit Rechtspopulisten-Gespräch, gut, dass der Wirt da nicht mal überraschend den Musikregler auf null gedreht hat. Das hätte gefährlich für uns werden können.
Vor einigen Monaten hatte ich einen Geschäftstermin in Düsseldorf mit einem wichtigen Mann von einem wichtigen deutschen Wirtschaftsverband mit Tausenden Mitgliedsunternehmen. Der Termin war lange geplant und sorgfältig vorbereitet worden. Doch ausgerechnet an diesem Abend streikte mein Auto. Ich telefonierte die drei Taxi-Ein-Fahrzeug-Betriebe im Ort durch – niemand hatte Zeit. Uber angefragt, kein Wagen verfügbar in der Provinz, klar. Ich also den Manager angerufen, um den Termin zu verschieben. Doch er wollte, dass wir uns treffen und sagte, er werde in unser Kaff – 20 Minuten entfernt – kommen. Oh, ja, erwiderte ich, und versprach, dass wir an der Hauptstraße zwei gute bürgerliche Lokale mit ausgezeichneter Speisekarte hätten.
Als er mit seinem Benz vorrollte, nahm ich ihn in Empfang und ging mit ihm zum ersten Gasthaus – Montag, Ruhetag. Das zweite, 200 Meter weiter, ebenfalls. So standen wir dort am Straßenrand und weit und breit war nur eine Bude beleuchtet: der „Samos-Grill“, ein paar Jungs in Jogginghosen und weißen Latschen an den Füßen standen an der Tür und rauchten. Er meinte, wir sollten doch einfach da reingehen und wenigstens ein Bier trinken.
Wir verbrachten zwei Stunden in Anzügen, weißes Hemd, Krawatten, auf Plastikstühlen, aßen Gyros mit Pommes/Mayo und tranken einige kalte Bitburger aus Flaschen. Wir haben ein paar konkrete Projekte besprochen, die wir peu a peu anschieben wollten, klar, dass es dabei auch um Geld geht. Aber niemals hätten wir uns persönlich so kennengelernt und so viel Spaß miteinander gehabt, wenn wir in einem gutbürgerlichen Gasthaus Kalbsschnitzel mit Kroketten und Gemüse gegessen hätten, mit Fahrstuhlmusik im Hintergrund. Manchmal haben solche Läden einen unwiderstehlichen Charme, oder?
Mit herzlichen Grüßen,
Ihr Klaus Kelle
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Klaus Kelle, Chefredakteur