Warnung vor dem „Vergewaltigungstag“
Kennen Sie die Filmreihe „The Purge“? Die spielt in einer Zukunftsversion der USA. Um die Kriminalitätsraten und Arbeitslosenzahlen niedrig zu halten, führt die Regierung – diesbezüglich erfolgreich – eine alljährliche „Purge-Nacht“ durch, in der alle Verbrechen inklusive Mord legal sind.
Klingt ziemlich krank, finden Sie nicht?
Doch wenn Sie das extrem finden, dann schauen Sie mal, was für Fantasien an Berliner Schulen verbreitet werden!
Zum ersten Mal ist 2021 über ein TikTok-Video aufgefordert worden, am 24. April junge Frauen und Mädchen anzufassen und zu belästigen, weil diese Handlungen an diesem Tag angeblich nicht bestraft würden. Obwohl es sich trotz offizieller Bestätigung von TikTok um eine Falschmeldung handelt und dieses originale Video bereits gelöscht wurde, halten sich die Gerüchte hartnäckig.
Tiktok hat angekündigt, alle Videos zu entfernen, die derartige Falschmeldungen verbreiten. Derweil bleibt bisher unklar, ob es tatsächlich bereits zu Opfern des verstörenden Tiktok-Trends gab. Klar ist, dass die Verunsicherung bei vielen Mädchen und jungen Frauen real ist.
Zwar sei das Video gelöscht und die Behauptung bereits damals als Falschmeldung enttarnt worden, das Thema halte sich jedoch hartnäckig. „Aktuell wird diese Falschmeldung erneut vermehrt von TikTok-Nutzern aufgegriffen und findet u.a. in Chats Verbreitung an Schulen.“
Berlins Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) hat die Schulen vor Falsch-Informationen aus dem Internet zum Thema sexuelle Belästigung von Mädchen und Jugendlichen am 24. April, gewarnt. Es gebe einen „verstörenden TikTok-Trend“, der als „National Rape Day“ (deutsch: Nationaler Vergewaltigungstag) bekannt sei und am 24. April auf die Schulen Auswirkungen haben könnte, schrieb Günther-Wünsch am Dienstag in einem Brief an die rund 800 Berliner Schulen.
Ich persönlich würde allen Eltern raten, ihre Töchter am heutigen Tag nicht in die Schule zu schicken.
Doch ist das nicht traurig? Wo sind wir als Land hingekommen? Jedem noch so jungen Menschen sollte bewusst sein, dass es sich um eine schwere Straftat handelt. Und unabhängig davon, ob es bestraft wird oder nicht: Jede Vergewaltigung zerstört das Leben seines Opfers und es dauert ewig (manchmal ein Leben lang) um mit dieser psychischen Erfahrung umzugehen. Und gleichzeitig reden wir davon, das Wahlalter immer weiter zu senken.
Das bringt mich zu einer weiteren Frage. Im März dieses Jahres wurde eine 16jährige Schülerin von 3 Polizisten und einem Pädagogen während des Unterrichts aus dem Klassenzimmer entfernt. Die Polizeiinspektion Stralsund bestätigte der NZZ inzwischen, dass es um Postings gegangen sei, zum Beispiel Slogans wie «nix yallah yallah», «in Deutschland wird Deutsch gesprochen» oder «heimat, freiheit, tradition/multikulti endstation». Das reichte der Schulleitung und den Behörden wohl aus, um eine „Gefährder-Ansprache“ zu halten. Dies erfolgt in der Regel bei Personen mit staatsfeindlichen Absichten oder Personen mit Terrorismus-Verdacht. Ich bin der Ansicht, dass im Zweifel einfachere pädagogischen Interventionen ausgereicht hätten: vom Gespräch mit der Schülerin selbst, über das Gespräch mit den Eltern bis hin zu allgemeinen Formaten der politischen Bildung.
Dafür muss man eine 16-Jährige nicht bloßstellen.
Doch ich frage Sie, liebe Leser. Haben Sie irgendwas mitbekommen, dass die Polizei hart durchgreift gegen Verbreiter dieses Videos und dieser Lügen? Die Konsequenzen sind aus meiner Sicht erheblich höher.
Wenn Sie mich fragen, sollten Schulbehörden, Polizei und Staatsschutz lieber an dieser Stelle ein hartes Exempel statuieren, als die Macht des Rechtsstaates an einer 16 jährigen Schülerin mit politischen Ansichten zu demonstrieren.
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Klaus Kelle, Chefredakteur