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Rückgrat geht anders: Der gar nicht mehr so große Cancel-Friedrich

ARCHIV – CDU-Politiker Friedrich Merz. Foto: Michael Kappeler/dpa

von JULIAN MARIUS PLUTZ

BERLIN – Der Herausgeber dieser Online-Tageszeitung meinte einst auf meinen Vorschlag, einen renommierten konservativen Journalisten zum Schwarmintelligenz-Treffen einzuladen: „Nein, diese Person ist „CDU Neunzigerjahre“ – Wir sind Hip-Hop.“ Das saß. Ob es stimmt oder nicht, das sei dahingestellt, dennoch hatte die Aussage nicht nur Charme, sondern auch einen wahren Kern. In den letzten Tagen erinnerte ich mich an den Satz von Klaus, als es um die Causa Friedrich Merz ging.

Es ist schon irgendwie paradox, warum ausgerechnet ein in die Jahre gekommener Politiker, immerhin nun mit Brillle, die christlich-demokratische Union erretten soll. Andererseits: Fällt Ihnen jemand besseres ein? Tobias Hans? Abgesägt. Daniel Günther? Zu merkelig. Michael Kretschmer? Zu provinziell. Wo sind eigentlich die Frauen in der CDU? Gibt es da jemanden? Wenn ja, bitte Email an mich: julianm.plutz@icloud.com.

Es scheint, dass Merz auf der steten Suche nach dem nächsten Fettnäpfchen zu sein scheint. Mit Erfolg. Doch dabei hörte er sich zunächst so vielversprechend an. Die größte Bedrohung“ der Meinungsfreiheit sieht Merz „inzwischen in der Zensurkultur“ – Stichwort Cancel Culture.

Kontaktschuld aus dem Hause der Ewigguten

Der „Kampf gegen rechts“ sei zudem ein „schwammiger Begriff“, den vermeintlich linke „Aktivisten“ missbrauchten, um „gegen völlig legitime Meinungen des demokratischen Spektrums oder sogar wissenschaftliche Erkenntnisse vorzugehen“. Er sehe „mit Besorgnis, was an den Universitäten in den USA“ passiere, es schwappe auch nach Europa über – und nennt als Beispiel die Causa Marie-Luise Vollbrecht, die Evolutionsbiologin, die seit ihrem gecancelten und inzwischen nachgeholten Vortrag über die Zweigeschlechtigkeit von Medien und Aktivisten auf das übelste diffamiert wird.

Immerhin. Doch Friedrich Merz wäre nicht eine waschechte Fettnapfmaschine, wenn er diese Aussage nicht in nur wenigen Tagen egalisiert hätte. Denn eigentlich sollte er bei einem Termin Ende August gemeinsam mit dem amerikanischen Senator Lindsey Graham auftreten, der Donald Trump unterstützt hatte. Ebenfalls eingeladen waren der Publizist Henryk M. Broder und der Rechtsanwalt Joachim Steinhöfel.

Kontaktschuld aus dem Hause der Ewigguten. Traumschön. Schlimm genug, dass Politiker sich dieser Unart bedienen, um den politischen Gegner zu diskreditieren. Doch skandalös und rückgratlos ist es von Friedrich Merz, der für ganze 15 Minuten Kämpfer der freien Rede war, vor ein paar rot-grünen Randfichten einzuknicken. Wo sind die cochones des Mannes, der über 1,90 Meter groß ist?

Merz ist lost – verloren

Inzwischen hat auch der Senator Lindsey Graham reagiert: „Ich habe nicht vor, Herrn Merz zu treffen“, zitiert die „Bild“-Zeitung den US-Politiker am Dienstagabend. „Bei Konservativen geht es um einen offenen, ehrlichen Dialog, in dem Standpunkte dargelegt werden“, führte Graham aus. Konservative würden sich aber „nicht gegenseitig canceln, bevor sie sprechen“. Folge man diesen Prinzipien nicht, sei man „nicht anders als die Linken“.

Das saß – und wie. So sehr, dass sich Friedrich, der gar nicht so sehr große, sich selbst beschädigt hat. Diese politische Taktlosigkeit scheint im Jahr 2022 Programm zu sein. Ob sich die Gattin des ukrainischen Präsidenten während des Krieges für die „Vogue“ im neuen Chanel-Kostüm ablichten lässt, oder deutsche SPD Politiker, die mit Sekt und Spaß auf die Ruinen von Kiew blicken. Sie sind falsch und merken es noch nicht einmal.

Das gilt auch für Merz. Erst über Cancel Culture zu sprechen und dann sich derselbigen zu bedienen ist nicht nur hochnotpeinlich, es ist auch wohlfeil und verlogen. Und es ist für Friedrich Merz nichts Neues. Vor Jahren bereits weigerte er sich eine Veranstaltung zu betreten, weil der – Achtung Satire – für ihn zu rechte Journalist Roland Tichy ebenfalls auf der Bühne stehen sollte. Merz ist lost, wie man es in Jugendsprache sagen würde. Verloren, weit weg vor dem eigenen Anspruch, konservative Werte ernsthaft zu vertreten.

Der formatlose Friedrich Merz

Die CDU ist kurz davor, endgültig in der Banalität einer schwarz-lackierten SPD-Grünenpartei zu verenden. Merz ist hierbei der Token, die Alibi-Konserve. Willkommen in Onkel Friedrichs Hütte! Ein bis zum Krampfen selbstbewusster Mann, ein Hühne, wie er im Buche steht, jedoch eingesperrt in einer viel zu kleinen Seele. Damit ist weder ein Krieg, noch eine Wahl zu gewinnen.

Apropos CDU der Neunziger. In der Zeit hätten die Kohls und Kochs und Geißlers nicht so ein Theater gemacht, neben wem sie bei irgendeiner Wald-und-Wiesn Veranstaltung sitzen würden. Ob man sie mochte, oder nicht: Diese Politiker standen für ihre Haltung. Wichtig war nicht, so man etwas sagt, oder mit wem man etwas sagt. Wichtig war stets, was man sagt. Es sollte um den Inhalt gehen und um sonst gar nichts.

Merz hat von dem nichts, was man Format nennt. Willfährig jagt er einen Trend nach dem anderen Trend nach. Jetzt ist er für Kernenergie. Wie aufregend! Und wie spät. Hätte er das Format, das man von einem CDU-Vorsitzenden erwartet, wäre er am lautesten für AKWs, wenn der Gegenwind am stärksten ist. Doch auch dieser Zug ist abgefahren – immerhin nicht der nach Kiew, den Friedrich Merz unlängst nahm.

Wenn das Treffen der bürgerlichen Schwarmintelligenz Ende Oktober in Bayern gemäß Klaus Kelle Hip-Hop ist, dann bin ich Kool Savas, klar. Der King of Rap würde jedenfalls Merz die Leviten lesen, wie es eigentlich seine Innerparteilichen tun sollten. Doch wer sollte das sein? Daniel Günther?! Ich lach‘ mich tot.

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Klaus Kelle, Chefredakteur