Unterwegs auf der ‚Ruta del Mar de Arousa‘, dem Ursprung aller Jakobswege
Rund 400.000 – so viele Pilger waren im vergangenen Jahr auf dem Jakobsweg in Richtung Santiago di Compostela unterwegs. Es ist der heilige Jakobus, der seit Jahrhunderten die Menschen dazu bewegt, sich selbst in Bewegung zu setzen. Doch wer den Ursprung aller Jakobswege gehen möchte, muss das Boot nehmen.
Weder Schweiß am Hemd noch Blasen an den Füßen – die Ruta del Mar de Arousa ist der Einzige der zehn Wallfahrtswege, der übers Wasser führt. Und so stellt sich hier das Pilgern als Bootsfahrt dar, bei der man gemütlich auf dem Wasser dahingleitet, ohne sich zu bewegen.
„Es handelt sich dabei um die letzte Reise von Jakobus, einem der Lieblingsjünger Jesu und der Anfang der gesamten Pilgergeschichte Galiciens“, erklärt Guide Tommi Alvarellos. Jakobus – im Spanischen heißt sein Name Santiago – unternahm im Jahr 33 und dann 42 Wallfahrten nach Spanien. Als er zwei Jahre später in Jerusalem enthauptet wurde, überführten seine Jünger Teodoro und Atansaio seinen Leichnam wieder nach Galicien. Der Erzählung nach wurde er in Begleitung von einem Engel auf einem Steinboot, dem so genannten ‚Barca de Pedra‘, über den Meeresarm Ria de Arousa und den Fluss Ulla bis ins Städtchen Padrón“ gebracht. Den richtigen Weg wies dabei ein heller Stern“, fügt Alvarellos hinzu.
Zwar ist es an diesem Sommertag kein Steinboot, das den Seepilgerweg des Meeres „erfährt“, aber die Strecke ist dieselbe
Es ist noch früh am Morgen, als Juan Oliveida vom Amare Tourismo Nautico im Hafen O Grove die Leinen löst. Das Meer liegt spiegelglatt in der Bucht, und die Zeit scheint stillzustehen. Noch nicht einmal ein Windhauch stört dieses malerische Stillleben in den Rías Baixas, der schmalen, tief ins Land reichenden Meeresbucht im Westen der spanischen autonomen Region Galicien.
Pilgern liegt im Trend – heutzutage allerdings nicht mehr nur aus religiösen Gründen, sondern eher, um den Alltag hinter sich zu lassen und den Kopf frei zu bekommen.
Pilgerer sind also immer auf einer Reise zu sich selbst – ganz egal, ob es sich um das Grab des Heiligen Jakobus oder die Statue der Heiligen Maria im französischen Lourdes dreht. Der Weg ist dabei das Ziel – und dabei zur Ruhe zu kommen, auf den eigenen Körper zu hören und im eigenen Tempo zu gehen. Ähnlich war es auch bei Stefanie Held, die sich nach einer schmerzlichen Trennung und viel Stress bei der Arbeit auf den 600 Kilometer langen Weg machte – und nach sechs Wochen an ihrem Ziel ankam.
„Doch der Camino Frances, der in Frankreich kurz vor der französisch-spanischen Grenze beginnt und von Ost nach West führt, ist am stärksten frequentiert“, erinnert sie sich. „Es hat oft ein Wettrennen um die Schlafplätze gegeben, und manchmal sind wir schon um vier Uhr im Dunkeln mit Stirnlampe aufgebrochen, um überhaupt einen der begehrten Schlafplätze in den Herbergen zu ergattern. Doch Pilgern an sich hat rein gar nichts mit Wettrennen zu tun.“
Was sie nun am Seepilgerweg reizt, ist die Einsamkeit und die andere Art des Fortbewegens. „Ich möchte den letzten Weg des Jakobus erleben. Und auf dem Wasser ist ein Pilgerweg anders intensiv. Wasser ist Leben, es fließt, ist immer in Bewegung und steht für Veränderung – die Energie dieses Grundelements nehme ich auf der Bootsfahrt in mich auf.“
Bootsmann Oliveida lenkt das Boot routiniert in Richtung Norden. In der Ferne ragen die Muschelbänke wie kleine Inseln empor. Es handelt sich dabei um so genannte Bateas – menschengemachte schwimmende Pontons aus Eucalyptusholz, unter denen die verschiedenen Meeresfrüchte angepflanzt werden wie Möhren in einem Gemüsebeet. Jeweils 500 Seile sind unter den 25 mal 25 Meter großen Holzgerüsten angebracht, an denen die Muscheln unter Wasser vor sich hinwachsen, während Ebbe und Flut als Lieferservice für ihre Nahrung dienen: Ihnen wird das planktonreiche Wasser direkt „vor die Haustür“ gespült. Ganze 3.300 Bateas gibt es vor den Küsten Galicien. „Es geht hier vorwiegend um Austern und Miesmuscheln. Aber weit größere Bedeutung für Galicien hat die Jakobsmuschel, ebenso benannt nach Apostel Jakobus“, erklärt Oliveida.
Jakobus erhielt die Jakobsmuschel als Erkennungszeichen postum zugedacht
Er trägt sie in Darstellungen in der Regel am Hut, am Mantel oder auf seiner Tasche. Aufgrund dieses Attributes wurde die Muschel bereits im Mittelalter zum Symbol der Pilger, und auch heute noch weisen sie in hellem Blau-Gelb den Pilgern – im vergangenen Jahr waren es rund 400.000 – an Pfählen, Mauern und Bäumen auf dasselbe Ziel: die Kathedrale in Santiago de Compostela. Denn genau an diesem Ort wurde vor fast zwei Jahrtausenden der Leichnam des heiligen Jakobus von seinen Jüngern beigesetzt. „Das Grab geriet in Vergessenheit – bis es im Jahr 813 im Wald Libredón wiederentdeckt wurde“, erklärt Alvarellos. „Dort wurde erst eine Kapelle gebaut, später eine Kirche und schließlich eine Kathedrale, um die herum sich der Pilgerort Santiago de Compostela entwickelte und zu der heute alle Jakobswege führen.“
Bootsführer Oliveida steuert das Boot weiter durch die Ria di Arousa – und schon bald ist auf einer Insel das erste Steinkreuz in Sicht. Die so genannten Cruceiros – insgesamt 17 gibt es auf dieser Strecke – markieren die Route, die das Schiff mit den Überresten des Jakobus gefahren ist. „Es handelt sich um den einzigen Seekreuzweg der Welt“, erklärt Guide Alvarellos. Entlang der Küste der Illa de Arousa führt der Weg am Leuchtturm und am Naturpark Carreirón vorbei und in Richtung des Fischerortes Carril.
Stefanie Held und die anderen vier Pilger an Bord lassen die Szenerie auf sich wirken. „Die spiegelglatte See, die Stille und das langsame Dahingleiten machen etwas mit einem“, sagt sie. „Ich bin genau im Hier und Jetzt, der Alltag ganz weit weg.“
Wieder ein Steinkreuz – oben prangen zwei steinerne Figuren: Jesus auf der Vorder- und der heilige Jakobus auf der Rückseite. Darunter vier steinerne Jakobsmuscheln.
Auf der Ulla flussaufwärts fährt der Bootsmann an weiteren Steinkreuzen des Kreuzweges vorbei in Richtung Padrón. Doch im Ort Pontecesures ist Schluss, denn der Fluss führt zu wenig Wasser. Die letzte Strecke, die das Schiff mit dem Leichnam des Jakobus vor fast 2.000 Jahren bis nach Padrón weiterfuhr, wird heute per Bus überbrückt.
Dort, wo das Schiff damals vor Anker ging, steht heute die Jakobuskirche, die Iglesia de Santiago Apóstol. Und um den römischen Meilenstein, dem Pedrón, wurde die Kirche gebaut. Der Stein ist einer der wertvollsten Stücke der Jakobstradition und befindet sich direkt am Altar der Kirche. Kühl ist es hier, und außer der kleinen Gruppe ist niemand vor Ort. So können sie sich auch Zeit nehmen und die Atmosphäre dieses besonderen Ortes in sich aufnehmen.
Zwar endet in Padrón der eigentliche See-Pilgerweg, doch gehört ein Besuch der 1985 zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärten Altstadt von Santiago de Compostela und ihrer Kathedrale zur Geschichte des heiligen Jakobus unbedingt dazu. Denn direkt unter dem Hochaltar befindet sich die Krypta mit dem eigentlichen Ziel des Jakobswegs, dem silbernen Schrein mit den Gebeinen des Apostels Jakobus. Vom Dach der berühmten Kathedrale sind Hunderte von Pilgern auf dem Plaza del Obradoiro zu sehen, die ihr Ziel erreicht haben. Und weiß leuchten ihre Jakobsmuscheln an Rucksäcken, Hüten oder Taschen.
Infos: Bootstouren auf dem Seepilgerweg und zu den Muschelfischern sind buchbar unter www.amareturismonautico.com/en/
Weitere Infos: www.spain.info/de/
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