Die wilde Isel – auf den Spuren des letzten frei fließenden Gletscherflusses Österreichs
Die Isel ist wild und ungezähmt und bahnt sich ihren Weg ungehindert ins Tal. Wer ihren Flusslauf erkunden möchte, kann dies auf einem Weitwanderweg tun. Der Iseltrail bietet nicht nur eine Reise durch unterschiedliche Vegetationszonen, sondern auch durch die Zeit.
Sie ist schon immer da – jedenfalls seit tausenden von Jahren. Hat die Landschaft im Laufe der Zeit geprägt, mit Schluchten, Felsen und glatten Sandbänken. Die Isel, der letzte frei fließende Gletscherfluss Österreichs, wird aus der Gletscherzunge am Umbalkees geboren – inmitten einer arktischen Landschaft im Nationalpark Hohe Tauern. Dem Gipfel der majestätischen Rötspitze ganz nah, bricht sie noch leise und als kleines Bächlein unter dem Gletscher hervor. An einigen Stellen hört man die einzelnen Tropfen aus dem Eis herausperlen – wie ein leises Flüstern. Doch schon bald bahnt sie sich brodelnd, zischend und mit unbändiger Kraft ihren Weg hinab ins Tal und übertönt bald alles durch ihr konstantes lautes Rauschen. Und Zeit bekommt eine ganz andere Bedeutung.
Das Ende ist der Anfang
Ein Fels in der Dolomitenstadt Lienz ist Startpunkt des rund 70 Kilometer langen Trails, der im Jahr 2020 eingeweiht und über fünf Etappen geht. Der steinige Koloss befindet sich auf einer Landzunge – von rechts fließt die Drau aus dem Pustertal in SüdtirolSüdtirol in Richtung Osten, von links kommen die Wassermassen der Isel. Sie vereinen sich dort zu einem großen Fluss. Hier verliert die Isel ihren Namen, denn fortan fließen auch ihre Wassertropfen zu Milliarden als Drau weiter hinab in Richtung Schwarzes Meer.
Das Ende der Isel ist also der Anfang des Trails. Von hier weisen die gelben Schilder den Weg. Schritt für Schritt geht es nun – im Einklang mit dem Fluss – immer weiter hinauf zu dessen Ursprung. Fünf Tage sind plötzlich ein ganzes Leben, das Leben des Flusses. Die kleinen Wassertropfen, die aus dem Gletscher geboren wurden und einzeln in dicken durchsichtigen eiskalten Perlen hinuntertropften, haben sich hier – 2.000 Meter tiefer und 70 Kilometer weiter flussabwärts – zu einem breiten Fluss formiert.
Die erste Etappe führt gemütlich rund 17 Kilometer die Isel entlang – durch die Sonnenstadt Lienz
Noch ein kurzer Blick auf das Schloss Bruck – und dann ist die Stadt verschwunden.
Nicht nur in der alpinen Abgeschiedenheit am Gletscher, sondern auch hier in der besiedelten Kulturlandschaft hat die Isel allen Eingriffen der modernen Welt standgehalten. Ihr Flussbett ist hier breit und durchzogen mit kleinen Inseln. Die Wanderschuhe hinterlassen auf den beigen Sandbänken Spuren im hellen Strandsand. Durch das breite Flussbett konnten sich hier Lebensräume entwickeln, die anderswo in Europa längst verschwunden sind. Fischotter und die als Huchen bekannten Donaulachse haben hier ein Zuhause gefunden, und auch die seltene Deutsche Tamariske wächst an vielen Stellen und taucht mit ihren Blüten die Ufer in ein Zartrosa. Der so genannte „Katzensteig“ bietet idyllische Aussichten auf die friedlich dahinfließende Isel. Ein paar Kilometer flussaufwärts etwas abseits vom Trail schießt der Daberer Wasserfall durch die schattige Waldschlucht. Dann ist der Fluss gesäumt von Uferwäldchen und saftigen Wiesen.
Doch fast würde es all das heute nicht mehr geben. „1971 standen Pläne für den Bau eines hydroelektrischen Speicherkraftwerks in Osttirol im Raum“, erklärt Nationalpark Ranger Andreas Angermann. Das Kraftwerk sollte die Gletscherflüsse in einen Stausee umleiten. Doch dazu kam es letztlich nicht, denn engagierte Umweltschützer und der niedrige Strompreis sowie die Schwankungen des Flusses – wenig Wasserführung der Isel im Winter sowie extreme Mengen an Gletscherwasser mit Gesteinsmehlanteil im Sommer – verhinderten das Projekt.
„Ich bin froh darüber, denn durch die Zwischenspeicherung des Wassers für das Kraftwerk wären die natürlichen Schwankungen des Wasserstandes weggefallen und Abläufe ver- und behindert worden“, fügt er hinzu. So ist das Naturjuwel geblieben – und Wanderfans können es in seiner ganzen Wildheit genießen.
Die Etappen 2 und 3 von St. Johann im Walde nach Prägraten am Großvenediger verlaufen auf rund 30 Kilometer fast ausschließlich neben dem lebendigen Fluss. Bald wird das Tal enger, und die Katarakte bei Feld sind die ersten Vorboten der kraftvollen, alpinen Isel im Oberlauf. Sie stürzt über mehrere Stufen durch die tief eingeschnittene Glo-Schlucht. Ein Blick in die Felsspalte – und jedem wird klar: Dieser Fluss hat seine eigenen Regeln, seine ureigene Geschwindigkeit. Und was sich ihm in den Weg stellt, wird mitgerissen. Beweise finden sich zuhauf: von der Wucht der Wassermassen kahlgeschälte Baumstämme hängen wie tote Gerippe an einem Felsvorsprung. Die Isel kennt keine Gnade, lässt sich nicht bändigen.
Und je näher es zur Geburtsstätte des Flusses geht, desto beeindruckender die Natur: Auf der knapp 13 Kilometer langen Etappe 4 stürzt die Isel mit enormem Getöse hinab und bildet die Umbalfälle. Das Gesteinsmaterial, das die Isel kontinuierlich aus der Gletscherregion mitführt, hat im Laufe der Jahrtausende den Felsuntergrund abgeschliffen, kreisende Steine haben topfartige Einsenkungen, die so genannten Strudeltöpfe, gebildet. Gischtnebel hüllt die Wanderer ein, die auf dem „Wasserschaupfad“ mit dem Fluss auf Tuchfühlung gehen. Der Weg ist nass und rutschig, der Atem geht schneller, denn er führt steil entlang der hinabstürzenden Wassermassen hinauf.
Oberhalb der Katarakte wird es stiller. Die Zivilisation macht der rauen Natur Platz. Aus einem breiten Wanderweg werden schmale Trampelpfade. Schneefelder und Wildblumen wechseln sich ab, und dazwischen pfeifen die Murmeltiere. Während die Schritte auf den kleinen Steinchen im regelmäßigen Laufrhythmus knirschen, taucht nach einer Wegbiegung plötzlich das Tagesziel auf: die Lichter der kleinen an den Hang geschmiegten Hütte strahlen in der Dämmerung einen ganz besonderen Glanz aus.
Übernachtung im Niemandsland
Während in der Clarahütte die Jacken über dem Ofen trocknen, muss der Fluss draußen bleiben. Hüttenwirtin Karin singt „Don’t worry, be happy“. Zwei Gitarren, das passende Lied, und Fremde werden zu Freunden.
Am nächsten Morgen scheinen die Dreitausender zum Greifen nah, und die alpine Wildnis zeigt sich mit ihrer Farbenpracht: Wie ein weiß-türkises Band durchzieht die Isel Blumenteppiche. Die Rost-Alpenrosen leuchten mit dem Blau des Enzians um die Wette.
Auf Etappe 5 haben die Wanderer die letzte größere Steilstufe zu überwinden, die vor wenigen Jahrzehnten noch vom Gletscher bedeckt war – und dann sind sie mitten in der arktischen Klimazone. Am Gletschersee vorbei, taucht das pyramidenförmige Wahrzeichen als Endpunkt des Iseltrails auf – dahinter thronen der imposante Gletscher Umbalkees und die Dreiherrenspitze. Freude und Wehmut zugleich – denn alle können sehen, wie weit der Gletscher zurückgegangen ist. Die Gefahr, die der Isel nun droht, ist der Klimawandel. Denn verschwindet der Gletscher, verschwindet auch die Isel.
Aber noch ist sie da – und begeistert mit ihrer ganzen Wildheit. Auf den fünf Etappen ist man Zeuge ihres Lebensweges vom eisigen Geburtsort bis zu ihrem Ende, der Mündung in die Drau. Und wer ihn geht, wird eins mit dem Fluss und kommt verändert nach Hause zurück…
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Klaus Kelle, Chefredakteur