„Gespenster wie wir“: Von Stefan Meetschen, der seine Vielschichtigkeit auf Papier auslebt
Im Roman „Gespenster wie wir“ greift der Schriftsteller Stefan Meetschen aktuelle Ideologien auf, die in Europa en vogue sind. Was der 55-Jährige über das Deutschland des Jahres 2024 denkt, erzählt er mir bei einer persönlichen Begegnung in der Hauptstadt.
Meetschen trägt dunkle Kleidung. Ich sitze ihm in einem Restaurant am Ludwigkirchplatz im Berliner Stadtteil Wilmersdorf gegenüber. Wir trinken Kaffee Americano. Nicht weit von hier, hat er eine Wohnung. „Eine Wohnung, aber kein Zuhause“, betont Stefan. Fast 20 Jahre lebt er in Polen, seit Jahresbeginn arbeitet er wieder als Journalist in Berlin. In der Stadt, in der er Anfang der 1990er Jahre studiert hat. „In einem fernen Jahrhundert“, wie Meetschen selbst sagt. Mit ironischem Augenzwinkern. Doch seine Standard-Mimik ist ernst, nachdenklich. Die Mimik eines Beobachters und Zuhörers, der kein Problem damit hat, sich zurückzunehmen. Anderen zuzuhören, zuzuschauen.
Was dabei rauskommt, kann man in seinem aktuellen Roman „Gespenster wie wir“ lesen, der autobiographisch gefärbt ist: „Wobei die erfundenen Dinge mir viel realer vorkommen, als die Dinge, die ich von der Wirklichkeit übernommen habe.“ Geheimniskrämerei auf intellektuellem Niveau? Nein, nein, sagt Meetschen, das sei schon ernst gemeint. Die Kraft der Verwandlung sei wichtig in der Literatur.
In dem Roman „Gespenster wie wir“ geht es um Albert Simon, einen Filmregisseur aus dem Ruhrgebiet, der schon lange in Polen lebt, aber zu Besuch bei einer Tante in Duisburg spürt, dass er einen Film über seine verstorbenen Eltern drehen muss, um seine Flucht vor der eigenen Herkunft zu beenden. Dabei gerät er in ein Heer von Widerständen. Am Ende kommt der Film in Alberts Warschauer Lieblingskino und bringt Menschen zusammen, die wie Albert einen neuen Weg gefunden haben.
„Ich möchte mit meinem Roman zeigen, dass alles miteinander verbunden ist. Was wir tun, was unsere Familienmitglieder vor 50 oder 100 Jahren gemacht haben. Alles hat Folgen für uns selbst und unsere Mitmenschen“, sagt Meetschen. Dabei unterscheidet er nicht zwischen religiöser, psychologischer oder politischer Dimension: „Alles hängt miteinander zusammen.“ Und wie groß sind die Ähnlichkeiten zwischen Stefan Meetschen und Albert Simon?
Natürlich sei Polen, das Land, in das er ausgewandert ist, ein verbindendes Element zwischen Held und Autor, so Meetschen. Es habe ihm aber auch Spaß gemacht, dem Regisseur Albert „ein paar böse Züge und Probleme“ zu verleihen, damit dieser als Held komplexer werde. Liebesaffären, Rufmord-Kampagnen. „Einen Leihwagen, um damit eine gute Figur zu machen, wie Albert es tut, habe ich mir auch noch nicht bestellt“, sagt Meetschen und lächelt. Auf einer tieferen Ebene sage Albert aber sicher viel über ihn aus – das existenzialistische Ringen bei religiösen Themen zum Beispiel oder seine kritische Haltung zu Ideologien aller Art. „Da ist er mir sehr nah.“
Tatsächlich findet man in dem Roman einen ganzen Blumenstrauß hochaktueller Themen wie die MeToo-Debatte, die Gender-Diskussion, Klimaschutz, Nationalismus und LGBTQ-Rechte und nicht zuletzt den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine, der 2014/15, dem Handlungszeitraum des Romans, mit der Krim-Annexion langsam warm wurde.
Stefan Meetschen hat zu den meisten behandelten Themen, wie er sagt, eine „komplexe Haltung“
Er gibt zu, mit der „Reife des Alters“ bei Beurteilungen „unsicherer“ zu werden. Im Unterschied zu früheren Jahren, als er genau zu wissen meinte, was richtig und falsch, Gut und Böse sei. Deshalb mache ihm das Schreiben von Romanen so viel Freude. „Ich kann meine Vielschichtigkeit, die jeder Mensch hat, schonungslos auf dem Papier ausleben. Das ist Freiheit.“ Was er schreibe, diene allein dem Zweck, eine Geschichte, die sich in ihm entwickle, so berührend wie möglich zu erzählen. Dies gelinge aber nur, wenn sie „ausreichend Interpretationsspielraum“ lasse – und ihn die Figuren beim Schreiben „überraschen“ können. Die Notwendigkeit, Albert in die Ukraine reisen zu lassen, habe sich zum Beispiel erst beim Prozess des Schreibens herauskristallisiert.
Und wie fühlt es sich für Stefan Meetschen an, nach so langer Zeit im Ausland die größte Zeit des Jahres wieder in Deutschland, in Berlin zu sein? „Ich habe dieses Jahr in Berlin die Möglichkeit gehabt, vielen interessanten Menschen zu begegnen“, antwortet Meetschen. „Autorenkollegen, Künstlern, Politikern, sozial Engagierten. So bin ich in viele deutsche Konflikte und Probleme quasi reinkatapultiert worden.“ Das sagt er langsam, jedes Wort genau abwägend, wie ein Diplomat.
Was ihn wundere, sei, wie „fast schon taumelnd“ die liberalen Demokratien Europas der Rückkehr „alter ideologischer Gespenster“ begegneten. „Mit Menschen, die gar nicht dicht genug an Putin heranrobben können, kann man nicht demokratisch zusammenarbeiten“, ist Meetschen überzeugt.
Entsetzt ist er über den „weitverzweigten Antisemitismus“ im Kultur-, Wissenschafts- und Politikbetrieb. Viel zu lange habe man den Antisemitismus in Deutschland als allein rechtes Phänomen betrachtet, findet er. Das sei er auch, aber nicht nur. „Die Abgründe des linken und islamistischen Antisemitismus sind in diesem Jahr transparent geworden.“
Ansonsten, so Meetschen, sei er auch nach so vielen Monaten darüber erschüttert, wieviel Armut und menschliches Leid ihm in der U-Bahn und auf den Berliner Straßen begegne. „Es macht mich traurig und zornig.“ Egal ob es sich um Menschen mit Migrationshintergrund oder Einheimische handele. All diese Menschen seien „Opfer falscher politischer Versprechungen“ geworden. Wie sehr sich die christlichen Verbände wie Diakonie und Caritas für diese Menschen und ihr Unglück engagieren, beeindruckt ihn. Wichtig sei es aber, der Gesellschaft als Ganzes neue Ziele zu geben. Welche zum Beispiel? „Selbstvertrauen und Innovationskraft auf den globalen Märkten, Kriegstauglichkeit in Einheit mit den europäischen Partnern und der NATO, dazu ein neues Wir-Gefühl, das nicht auf die Hautfarbe schielt, dafür kompatibel mit Vernunft und Verlässlichkeit ist.“
Irgendwie ein cooler Typ, dieser Stefan Meetschen. In all seiner Vielschichtigkeit.
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Klaus Kelle, Chefredakteur