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Bald könnte jeder Zehnte in Rott ein Flüchtling sein

Rott am Inn: Wenn jeder Zehnte ein Fremder ist

Esther von Krosigk
Volles Haus in Rott.
Foto: Esther von Krosigk | Volles Haus in Rott.

Am selben Tag, als im fernen Berlin die Bundesinnenministerin ihr Paket zur Bewältigung der Migrationskrise vorlegte, ging den Menschen in Rott das Thema Flüchtlinge ganz nah. Eine Bürgerversammlung im Landgasthaus Stechl war für den Abend einberufen worden und der allgemeine Gemütszustand der Rotter war in großen Lettern an markanten Punkten im Ort dokumentiert: „Rott rot(t)iert“. Gefühle wie Empörung und Wut, aber auch Ängste und Unverständnis beherrschen die Menschen angesichts der Entscheidung, dass eine Ankunftseinrichtung mit mehreren Hundert Flüchtlingen im Industriegebiet des Ortes entstehen soll. Ob 250, 300 oder gar 500 Menschen darin untergebracht werden sollen, bleibt offen.

Bald könnte jeder Zehnte in Rott ein Flüchtling sein

Vor allem der Ablauf der Ereignisse hat viele Rotter in Rage versetzt: Gleich am Montag nach der Landtagswahl in Bayern am 8. Oktober erhielt der Bürgermeister der Gemeinde Rott am Inn, Daniel Wendrock, einen Anruf aus Rosenheim. Durch Landrat Otto Lederer erfuhr er überraschend von der geplanten Sammelunterkunft für die Erstaufnahme von Flüchtlingen, ein Mietvertrag über fünf Jahre war bereits unterschrieben.

Quasi über die Köpfe der 4.200 Einwohner zählenden Gemeinde hinweg waren seit Juli Fakten geschaffen worden und wer nachrechnete, kam schnell zu dem Ergebnis: Nach Umbau und Bezug der Industriehalle Am Eckfeld wird wohl mindestens jeder Zehnte in Rott ein Fremder sein. Was die Sache zusätzlich erschwert, ist die kurze Verweildauer der Ankömmlinge – ein Aufenthalt von zwei bis drei Monaten macht eine Integration kaum möglich und jeder neue Schub an Menschen bringt wieder Unruhe und Unsicherheit. „Wenn das vor der Wahl thematisiert worden wäre, dann hätte die AfD weit mehr Stimmen erhalten“, meinte ein älterer Herr hinter vorgehaltener Hand. Doch nach Abschluss des Mietvertrags Ende September war der verantwortliche Landrat in Urlaub gegangen – erst am 9. Oktober griff er zum Hörer, um Daniel Wendrock zu informieren.

Die Bürgerversammlung, auf der sich beide den Fragen der besorgten Menschen stellten, leitete Daniel Wendrock mit den Worten ein: „Ich halte diese Entscheidung des Landratsamts Rosenheim in der jetzt vorgelegten Form für eine grundlegende Fehlentscheidung, die wir nicht widerspruchslos hinnehmen werden.“ Dafür gab es tosenden Applaus von den 300 Menschen im voll besetzten Saal – weit über 1000 Menschen folgten der Versammlung via Live-Stream. Die angekündigte Gegenwehr soll jedoch nicht nur über eine Bürgerinitiative und eine Unterschriftenaktion erfolgen, es werden vom Bürgermeister auch juristische Schritte erwogen.

Rott ist auf die herausfordernde Aufgabe nicht vorbereitet

Damit an diesem Abend trotz starker Emotionen alles in geordneten Bahnen verlief, war ein Mediator eingeschaltet worden, der vorab Spielregeln für die Diskussion festlegte: Wer eine Frage stellen oder einen mündlichen Beitrag leisten wollte, für den stand in der Mitte des Saales ein Mikrofon bereit. Dennoch war es für viele der Anwesenden schwer, bei den knapp einstündigen Ausführungen von Landrat Lederer die Ruhe zu bewahren. Lederer machte deutlich, was die Bundespolitik von den Landkreisen erwarte – so käme alle zwei Wochen ein Bus mit rund 50 Personen an, die untergebracht werden müssten. Die Erwähnung, dass jedem Flüchtling drei Mahlzeiten am Tag und 235 Euro monatlich sowie freie Arztwahl zuständen, führte zu lautstarken Reaktionen im Publikum. Da stand als Frage im Raum: Wie sollen die örtlichen Ärzte, die ohnehin schon überlastet seien, eine zusätzliche große Zahl an Patienten bewältigen? Überhaupt: Die kleine Kommune mit ihrer Infrastruktur, mit der möglicherweise nicht ausreichenden Wasserversorgung, ist auf diese herausfordernde Aufgabe nicht genügend vorbereitet.

Ein sehr sensibles Thema war und ist die Sicherheit. Ein Vater sagte geradeheraus: „Ich habe zwei Kinder im Alter von neun und zwölf Jahren und ich habe Angst um die beiden – vor allem um meine Tochter! Es ist einfach so ungut, dass man eine solche Menge Menschen in so eine kleine Ortschaft drängt – das macht mir noch viel mehr Angst.“ Ähnlich drückte sich eine fünffache Mutter im Publikum aus: „Ich mache mir große Sorgen um meine Kinder.“ Eine junge Frau fragte Landrat Lederer versuchte zu beschwichtigen, indem er in Aussicht stellte, nicht nur einen 24-stündigen Security-Service in der Ankunftseinrichtung bereitzustellen, sondern in Absprache mit der örtlichen Polizei, der Gemeinde und den unmittelbaren Nachbarn ein Sicherheitskonzept zu erarbeiten.

Im ganzen Landkreis gibt es keine Alternative

Aber was viele Menschen ebenfalls bewegte, war die Überlegung: Gab es zur „Rotter Lösung“ nie eine Alternative? Verschiedene Möglichkeiten wurden erörtert. So brachte ein Bürger, der während seiner Bundeswehrzeit länger in Bad Aibling stationiert war, die dortige Mangfall-Kaserne ins Spiel, die seit 15 Jahren leer stehe und durch ihre Räumlichkeiten inklusive Kücheneinrichtungen und abgetrennten Sanitätsbereich für die Unterbringung von Flüchtlingen doch eigentlich prädestiniert sei. Landrat Lederer räumte ein, dass die Kaserne tatsächlich als Unterkunft in Erwägung gezogen worden sei, doch der Bund habe dem eine Absage erteilt. Er könne da nichts ausrichten, schließlich mache der Bund nun mal die Gesetze. Vorrangiges Ziel sei nun, die durch Flüchtlinge belegten Turnhallen in Bruckmühl und Raubling ihrer eigentlichen Bestimmung wieder zuzuführen sowie ankommende Schutzsuchende adäquat unterzubringen. Zu Rott gäbe es im gesamten Landkreis keine Alternative.

Die Rotter fühlen sich von der Politik im Stich gelassen. Dabei haben sie im Rahmen der Willkommenskultur 2015 bereitwillig Flüchtlinge aufgenommen und somit Solidarität gezeigt – nach wie vor leben rund 100 Flüchtlinge im Ort. Ein Rotter stand auf und sagte in Richtung Landrat: „Ich glaube, wir haben alle mitbekommen, dass die Bundespolitik nicht funktioniert. Aber Sie sind gewählt worden, um unsere Interessen zu vertreten, auch in der Bundespolitik …“ Für ihn sei es unverständlich, dass es keine Alternativen zu Rott gäbe: „Und meine Hoffnung ist, nach Alternativen zu suchen.“ Das wünschen sich nach wie vor alle Rotter Bürger, die nach drei Stunden hitziger Diskussion „Rott rot(t)iert“ im Saal skandierten. Eines steht wohl fest: Diese erste Bürgerversammlung wird nicht die letzte gewesen sein.

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Klaus Kelle, Chefredakteur