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So viel Mitgefühl muss sein: Zivilisierte Menschen nehmen auch das Leid von Fremden wahr

Liebe Leserinnen und Leser,

wie gern möchte ich morgens in der Frühe mal meinen PC hochfahren und irgendeine gute Nachricht zu lesen bekommen. Der Hunger in der Welt ist besiegt, der Krieg in der Ukraine ist endlich vorbei oder Karl Lauterbach ist zurückgetreten. Aber das Leben ist nicht so. Jeden Morgen nur miese Nachrichten, aus Deutschland und der ganzen Welt.

In den USA – Texas – hat es erneut ein Schulmassaker gegeben. An einer Grundschule, also wo Sechs- oder Siebenjährige einen ganz normalen Unterrichtstag erwartet haben. Cornflakes mit Milch, Waffeln mit Blaubeeren oder Scrambled Eggs mit Bacon, dann von Mom im SUV zur Schule gebracht. Küsschen, ein Lächeln und ab auf den Schulhof gerannt. Und wenige Stunden später erfährt Mom, dass ihr Leben nie wieder so sein wird, wie es morgens am Frühstückstisch war. Dass sie nie wieder dieses unbeschwerte Lachen des eigenen Kindes erleben  wird. Mich machen solche Nachrichten fertig, und ich bin aber auch sicher, dass viele heute Morgen denken, das ist weit weg, was geht es uns an? Typisch Amis, Waffenlobby, sie wissen schon.

Aber es ist völlig egal, ob es in Amerika oder Indien, Brasilien oder hier bei uns in Deutschland passiert ist. Ist das nicht schrecklich? Warum lässt Gott sowas zu, wird mancher denken. Warum wird der freie Waffenverkauf in den USA nicht endlich verboten, fragen andere.

Ich denke nur an die toten Kinder. Ich kenne die natürlich nicht, aber ich habe selbst fünf Kinder, drei Jungs und zwei Mädchen. Und ich war natürlich bei jedem dabei zur Einschulung, bunte Schultüte mit Süßkram drin, Malstifte, Radiergummi. Immer mit Party anschließend, immer ein großer Augenblick: der erste Schultag, ein wichtiger schritt ins Leben. Und weil ich das erlebt und genossen habe, packt mich das emotional, auch wenn es weit entfernt ist, auch wenn ich weder die Opfer noch ihre Familien kenne.

Als vor einigen Jahren die kleine Maddie McCann (3) in einer Ferienanlage in Portugal entführt wurde, 50 Meter entfernt von dem Tisch, an dem ihre Eltern zeitgleich Tappas aßen, hat mich das zutiefst schockiert. Wir oft waren wir mit unseren kleinen Kindern in einer solchen Ferienanlage? Fuerteventura, Kos, Antalya…alles inklusive, alles nett, Sonnenschein, freundliche Menschen rundherum. Und dann so etwas. Bis heute bleibt Maddie verschwunden, wahrscheinlich ist sie tot. Aber wir wissen es nicht, durchaus möglich, dass sie ein schlimmers Schicksal erleiden muss als den Tod. Man mag gar nicht daran denken.

Ich erfuhr damals von der Entführung der kleinen Maddie durch eine Meldung in unserer Tageszeitung am Frühstückstisch. Auf der letzten Seite, „Aus aller Welt“. Ich war zu der Zeit selbst schon Journalist, und als wir morgens Redaktionskonferenz hatten, fragte ich in die Runde: Warum ist die Entführung von Maddie nicht auf der 1? Warum ist das Foto der Kleinen mit den großen Kulleraugen nicht Seitenoptik auf dem Titel? Ich wurde belehrt, dass sich die Leser nicht sonderlich dafür interessieren, wenn im Ausland so etwas passiert und Ausländer die Opfer sind. Eine dreijährige Deutsche entführt in Portugal wäre natürlich Titelstory gewesen. Aber eine Engländerin? In Portugal? Randnotiz.

Maddies Schicksal wurde dann doch noch zu einer so „großen Geschichte“, dass nach drei Tagen alle Medien umfangreich auf den Titelseiten über den Fall berichteten – auch in Deutschland. Und erst vor wenigen Monaten haben wir erfahren, dass die Staatsanwaltschaft einen polizeilich bekannten Kinderschänder aus Deutschland als vermeintlichen Täter angeklagt hat.

Sind wir überhaupt noch fähig zu echter Empathie? Passiert nicht jeden Tag so viel Schreckliches auf der Welt, dass man da nicht immer mitfühlen kann? Wahrscheinlich ist das so.

Wahrscheinlich muss das so sein, wie die Krankenschwester auf Intensivstation, die jeden Tag mit Menschen zu tun hat und ihnen beim Sterben zusehen muss. So wie der Kriminalpolizist, der zu Angehörigen fahren muss, um die Nachricht vom Tod eines Familienmitgliedes überbringen muss. Oder die Beamten, die im Darknet jeden Tag den Kinderporno-Dreck stundenlang anschauen müssen und den Tätern nachspüren. Was macht das mit diesen Menschen? Können die einfach abschalten, wenn sie nach Haus kommen, vielleicht zu ihrer Familie mit den Kindern?

Heute Morgen habe ich keine klugen Vorschlag für Sie oder eine neue Erkenntnis. Außer Sie dafür zu sensibilisieren, auch das Leid vollkommen fremder Menschen wahrzunehmen. Und für meine Arbeit: Wenn ein 20-Jähriger mit einem Sturmgewehr in eine Grundschule geht und 20 kleine Kinder umbringt, dann ist das hier Aufmacher auf der 1. Und es ist vollkommen egal, ob das in Winnenden, Texas oder Neu Delhi passiert ist. So viel Zeit und so viel Mitgefühl müssen immer sein.

Mit herzlichen Grüßen,

Ihr Klaus Kelle

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Klaus Kelle, Chefredakteur