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Alt werden mit Frankfurter Kranz

Liebe Leserinnen und Leser,

ist es Segen oder Fluch, alt zu werden? Seit ich die 60 überschritten habe, beschäftige ich mich immer häufiger mit dieser Frage, nicht nur, wenn ich zufällig Geburtstag habe. Vorgestern ist Andy Fletcher, Keyboarder der legendären britischen Synthie-Pop-Band Depeche Mode, im Alter von 60 Jahren gestorben. Niemand sollte schon mit 60 sterben oder gar früher. Bei den medizinischen und wissenschaftlichen Fortschritten. Aber Gesundheit ist ein gigantisches Geschäft geworden, der Patient und sein Wohlergehen stehen dahinter.

Eine langjährige liebe Freundin von mir ist derzeit schwer erkrankt und liegt in einer Spezialklinik. Sie braucht dringend eine Operation und befürchtet, dass es schon zu spät sein könnte. Viele von uns hoffen und beten für sie. Seit Wochen wartet sie auf diese möglicherweise lebenserhaltende Operation, aber es wird gestreikt. GESTREIKT! Sie können sich nicht vorstellen, wie wütend mich das macht, dass man in Krankenhäusern streiken darf, während Menschen dort liegen und um ihr Leben kämpfen.

Altern ist im Normalfall nicht so schlimm. Junge Leute denken, ab 30 geht’s bergab. Aber das ist Mumpitz. Ab 30 geht’s erst richtig los. Und dann 40 – da weiß man, wie das Leben läuft und wünscht sich, man könnte nochmal 25 sein mit dem Wissen, das man jetzt hat. Und wissen Sie was? Zumindest bei mir war der Wendepunkt der 50. Geburtstag. Ich wurde morgens wach, schaute unter die Decke des Schlafzimmers, und mein erster Gedanke war: Sch…!

Natürlich ist das Leben auch jenseits der 50 oft schön, wenn man von schweren Krankheiten und Unfällen verschont bleibt. Und natürlich fühlt man sich abends mit 53 immer mal wieder total jung, feiert durch bis morgens um 4 Uhr und grölt beim Zappeln:

„If it hadn’t been for Cotton-Eye Joe
I’d been married long time ago
Where did you come from, where did you go?
Where did you come from, Cotton-Eye Joe?“
Nur wissen manche danach dann erst nach zwei Tagen wieder, wie sie heißen und wer sie sind.
Vor 20 Jahren habe ich nicht verstanden, wie man sich übers Altern überhaupt Gedanken machen kann. Jetzt weiß ist es, nicht erst nach der Grenzerfahrung eines schweren Herzinfarktes, wo drei Wochen lang niemand sagen konnte, ob ich wieder aufwache, und ob ich dann meine Familie noch erkenne.
Letztlich hängt fast jeder am Leben, egal, wie das real tatsächlich ist. Auch wenn es vielleicht objektiv betrachtet gar nicht lebenswert erscheint. Ein Freund vertraute mir vergangene Woche an, dass er sich an eine Organisation „in der Schweiz“ gewandt habe für den Fall, dass sich sein Leben irgendwann so entwickelt, dass es subjektiv nicht mehr lebenswert erscheint. Für mich wäre das keine Option, über die ich nachdenken möchte.
Mein Vater starb vor 22 Jahren urplötzlich auf dem Weg zum Faxgerät in seinem Büro. Er sackte auf dem Boden zusammen und war in wenigen Sekunden tot. Einfach so, ohne Schmerzen, ohne monate- oder sogar jahrelanges Siechtum auf einer Intensivstation, angeschlossen an Schläuche. Meine Mutter starb vor gut drei Jahren im Alter von 93 Jahren in einem Pflegeheim. Sie schlief einfach ein, wir waren jeden Tag bei ihr, sie war klar im Kopf, wir hatten ausreichend Zeit, voneinander Abschied zu nehmen. Ich beneide meine Eltern, dass sie beide so unkompliziert hinüberwechseln konnten auf die andere Seite. Wenn ich eines Tages an der Reihe bin, möchte ich auch so gehen. Und ich bin ein gläubiger Mensch und erwarte, dass es dann erst richtig losgeht.
Ich habe gehört, dass meine Kinder mir wieder einen Frankfurter Kranz gebacken haben und mich nachher damit erfreuen werden. Hoffentlich muss ich nicht 63 Kerzen ausblasen dann. Aber ich freue mich total, denn das Frankfurter Kranz-Ritual pflege ich seit vier Jahrzehnten, nach dem original Rezept meiner wunderbaren ersten Schwiegermutter. Frankfurter Kranz, werden Sie denken, dann wirst Du ganz bestimmt nicht alt! Ich bin zuversichtlich, denn sie machen die Buttercreme immer fluffig und nicht so mächtig und süß. Und ein bisschen Freude muss man ja auch mit 63 noch haben, oder?
Ihnen allen wünsche ich ein schönes Wochenende!
Ihr Klaus Kelle

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Klaus Kelle, Chefredakteur