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Liberales Denken in Zeiten massenhafter Migration

von FELIX HONEKAMP

Der Liberale ist für offene Grenzen – so lautet ein Mantra gerade derjenigen, die sich den Prinzipien des Liberalismus entweder kritisch oder unbedarft ideologisch annähern. Und tatsächlich: Eher zufällig durch ehemalige Verwandtschaftsverhältnisse und Kriege gezogene Grenzlinien stehen der Freiheit der Menschen im Weg. Und wenn Freiheit bedeutet, dass niemand gegen seinen Willen zu etwas gezwungen werden sollte, wenn er sich bewegen und tun und lassen können sollte, was er will, so lange er niemand anderen einschränkt, dann stehen dem geschlossene Grenzen natürlich im Weg.

So gesehen war die Grenzöffnung der Kanzlerin im September 2015 ein Akt des Liberalismus; oder sie wäre es gewesen, wenn diese Öffnung für alle gegolten hätte und nicht nur für Menschen auf der Flucht vor Armut oder Verfolgung. Umgekehrt tut man sich als Liberaler schwer, geschlossene Grenzen zu fordern, egal ob innerhalb der EU oder deren Außengrenzen.

Eine solche liberale Position offener Grenzen geht allerdings von Prämissen aus. Wer in ein Land einwandert, nutzt dort zunächst mal Raum und Infrastruktur. Er betritt das Eigentum der dort Ansässigen, was die natürlich aus liberaler Sicht nicht einfach akzeptieren müssen. Die Unverletzbarkeit des Eigentums ist eine der Grundpositionen liberaler Politik; niemand darf gezwungen werden, sein Eigentum abzugeben – das wäre am Ende Raub und mit liberaler Politik nicht zu vereinbaren. Ein Gemeinwesen wie unseres hat aber ein weites Feld dessen, was alles außerhalb des individuellen Eigentums liegt: Straßen, Kanalisation, Verkabelung, öffentliche Flächen und Gebäude – das alles gehört nicht einem Einzelnen sondern der Gemeinschaft und wird durch den Staat verwaltet.

Dazu kommt noch ein ausgeprägtes Sozialsystem, in das Migranten einwandern, und das ihnen auch in weiten Teilen – also zumindest in Richtung Grund- und Gesundheitsversorgung zur Verfügung steht. Die dahinter stehenden Zahlungen sind Versicherungsleistungen, in die Menschen eingezahlt haben, über deren Köpfe hinweg jetzt über die Verwendung entschieden wird. Versicherungsleistungen gehen damit einher, dass man Eigentum aufgibt; das passiert aber in der Regel bewusst und in Kenntnis der Rahmenbedingungen. Bei staatlichen Versicherungen ist das aber nicht der Fall. Viele der Leistungen sind eher als Steuern denn als Versicherungsprämien zu verstehen.

Zu guter Letzt: In einer bestehenden Gesellschaftsordnung besteht in der Regel ein weitgehender Konsens über das Wertesystem. Das kann sich innerhalb eines Landes, einer Region, vielleicht sogar innerhalb einer Stadt unterscheiden und unterschiedliche Milieus hervorbringen. Sprechen wir aber über Nationen stellt sich die Frage, welcher Konsens dort vorherrscht und ob die in das „Eigentum“ der bestehende Gesellschaft „Einwandernden“ zu respektieren bereit sind. Zu weit auseinanderdriftende Überzeugungen führen zu Spannungen in einer Gesellschaft und die Frage, wie weit diese Spannungen auszuhalten sind, muss die Gesellschaft, bzw. deren Mitglieder beantworten. Das kann nicht die Politik von oben entscheiden.

In einer wirklich freien Gesellschaft, die auch christliche Werte wie Mitgefühl und Barmherzigkeit beinhaltet, wäre die Frage der Migration in Sozialsysteme schnell geklärt: Es würde sie nicht geben. Gesellschaften, Kommunen, Nachbarschaften würden darüber entscheiden, wer zuziehen kann und dabei auch bei Flüchtlingen Werte wie Mitmenschlichkeit einbeziehen (nebenbei: ohne vorher für Solidarleistungen durch den Staat zur Kasse gebeten worden zu sein). Dabei würde auf ausreichende Homogenität geachtet, ohne Differenzen zu gering zu achten; Ziel würde sein, weitgehend frei von negativen Spannungen zusammen zu leben. Wer zuzöge würde schnell gefordert sein, auf eigenen Beinen zu stehen, da ein Sozialsystem höchstens rudimentär zur Verfügung stünde (was wohl auch den Kreis der Angezogenen verkleinern würde). In einem solchen System, dessen innere und äußere Sicherheit durch gemeinsame Anstrengungen, auf staatliche Ebene delegiert, aufrechterhalten würde, wären abschottende Grenzen in der Tat überflüssig, ja sogar kontraproduktiv. Gerade die Durchlässigkeit sowohl von Regionen als auch von Gesellschaftsschichten wäre es, die zu Innovationen – gesellschaftlichen wie technologischen – führen würde.

Einsichtig ist hoffentlich: In einer solchen Gesellschaft, in einer solchen Staatskonstruktion leben wir nicht. Privateigentum an der Bundesrepublik ist weitgehend reduziert und durch allerlei Verpflichtungen gebunden. Das Sozialsystem ist nicht auf Motivation sondern auf Sicherheit ausgelegt, die auch den letzten Eventualfall abdeckt. Zuwanderung wie auch Flüchtlingspolitik wird staatlich organisiert, Städte und Gemeinden haben kaum Einfluss darauf, wer zu ihnen kommt und können im Sinne einer Ansiedlung bestenfalls noch reagieren, aber nicht konstruktiv steuern. Wer in einem solchen Umfeld geschlossene oder zumindest kontrollierte Grenzen fordert, ist nicht per se illiberal sondern er agiert nur realistisch in einem illiberalen Umfeld um Schlimmeres zu verhindern. Das mancher in der Flüchtlingspolitik hart an der demokratischen Legitimität vorbeischrammende Politiker nun ausgerechnet bei der Grenzsicherung die Flagge des Liberalismus hissen will, kann man nur entweder Unkenntnis oder politischem Kalkül zurechnen. Anders gesagt: Dummheit oder Bosheit! Man fragt sich unwillkürlich, was davon schlimmer ist.

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Klaus Kelle, Chefredakteur