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China ist nicht begeistert von dem Mann

Präsidentschaftswahlen in Taiwan: Lai Ching-te liegt in den Umfragen vorn

MARTIN EBERTS
Traditioneller Wahlkampf in Taiwan

Der 13. Januar 2024, der Tag der Präsidentschaftswahl in Taiwan, ist – wenig beachtet von der Öffentlichkeit in Deutschland – ein kritisches Datum nicht nur für die kleine Musterdemokratie in Ostasien, sondern auch für die Stabilität an der Taiwan-Straße, durch die, nebenbei bemerkt, ein Drittel des Welthandels zur See geführt wird. Aber die Taiwaner entscheiden sich an der Wahlurne nicht nur aufgrund der China-Politik der Kandidaten; sie sind traditionell erstaunlich selbstbewusst gegenüber den ständigen Drohungen und Einflussversuchen aus Peking. Was zählt sind vor allem Innenpolitik und Charakter der Kandidaten. Wer also steht zur Wahl?

Ein eleganter, weltläufiger Gentleman

Aufgrund des seltsamen Wahlrechts – der Kandidat mit den meisten Stimmen gewinnt, und es gibt keine Stichwahl – kann für den Sieg und die Übernahme des Präsidentenamts schon ein gutes Drittel der Stimmen reichen. Und darauf hofft der Umfrage-Spitzenreiter LAI Ching-te von der seit acht Jahren regierenden, als „independentistisch“ geltenden „demokratischen Fortschrittspartei“ DPP. Lai ist nicht (mehr) so populär wie Präsidentin TSAI, die nach zwei Amtszeiten nicht mehr antreten kann.

Aber er hat gute Chancen dennoch ihre Nachfolge im Amt anzutreten, obwohl die DPP innenpolitisch keine gute Bilanz aufzuweisen hat. Aber ihre Hauptklientel, ihre Stammwähler, sind zuverlässig an den Wahlurnen und handeln gewissermaßen nach dem Motto „tut es auch weh, wähl DPP“. Das sind jene gut 30 Prozent Taiwaner, die mit China nichts mehr zu tun haben wollen und die am liebsten auch den Namen „Republik China“ in „Republik Taiwan“ ändern würden, was für Peking erklärtermaßen Kriegsgrund wäre.

Lai war am beliebtesten in seiner Zeit als Bürgermeister der Stadt Tainan, einer absoluten Hochburg der DPP im Südwesten des Landes. Aus dieser Zeit sind kernige Aussprüche von ihm überliefert, in denen er sich offen für ein Ende der Fiktion des „einen China“ und die formelle Unabhängigkeitserklärung aussprach. Seither – und seitdem er auf nationaler Ebene Politik macht –  hat er seine Rhetorik gemäßigt und als Premierminister die Sprachregelungen seiner Präsidentin (und innerparteilichen Dauerkonkurrentin) Tsai weitgehend übernommen.

Wird Lai gewählt, wofür die letzten Umfragen sprechen, wird es eine Fortsetzung der Politik von Frau Tsai geben, mit bloß kosmetischen Änderungen. Der noch immer jugendlich wirkende Politiker wird im Westen einen hervorragenden Eindruck machen; er ist weltläufig und tritt elegant auf, versteht zu vermitteln und ist (inzwischen) Realist. Für Peking ist er aber genausowenig ein Gesprächspartner wie Frau Tsai, sogar noch weniger. Für die KP Chinas ist er der Hass-Feind par excellence, und Peking wird nicht zögern die Taiwaner für eine eventuelle Wahl Lais zu „bestrafen“, noch etwas mehr als bisher.

Ein Mann des Volkes, glanzlos aber verlässlich

Der wichtigste Gegenkandidat ist HOU You-yih von der oppositionellen „Kuomintang“ (KMT), der alten Partei Tchiang Kai-scheks, welcher häufig noch ihre diktatorische Vergangenheit unter dem  General vorgeworfen wird.

Dabei vergessen die meisten Kommentatoren zu erwähnen, dass die Demokratisierung Taiwans „von oben“ geschah, von eben jener Kuomintang herbeigeführt wurde – etwas, dass bei der chinesischen KP nun wirklich völlig ausgeschlossen wäre. Und trotz allen hoch emotionalen Wahlkampfgetöses wissen das die Wähler in Taiwan ganz gut. Kandidat Hou ist dabei ein typischer KMT-Mann: bodenständig, etwas hölzern, wertkonservativ. Für unseren Talk-Show-, Medien- und Framing-Politikstil wirkt er „unmöglich“, aber die einfachen Leute in Taiwan mögen ihn, den ehemaligen Polizeichef, der Sicherheit und „keine Experimente“ verspricht. Gegenüber China hält er am Status Quo fest und verspricht (behutsam), den seit acht Jahren abgerissenen Gesprächsfaden wieder aufzunehmen. Ob Peking darauf noch etwas gibt, darf man bezweifeln. Aber jedenfalls wäre ein Wahlsieg Hous sicher ein wirksamer Beitrag zur Deeskalation im Verhältnis zu China – für die nähere Zukunft.

Entgegen allen Voraussagen hat Hou in den letzten Wochen stark aufgeholt und könnte auf den letzten Metern den sicher geglaubten Wahlsieg Lais gefährden. Ziemlich sicher ist aber schon mal eines: Die KMT wird – Präsidentschaft hin oder her – im Parlament die Mehrheit stellen. Und dann stünde einem DPP-Präsidenten Lai eine äußerst schwere „Cohabitation“ ins Haus.

Der Joker

Bleibt noch der Dritte im Bunde, ein „Joker“ in mehrfacher Hinsicht: Der gelernte Arzt und frühere Bürgermeister von Taipei, KO Wen-je, ein ehemaliger Außenseiter und skurriler Sonderling, der es als Medienliebling weit nach oben geschafft hat. Aus für Außenstehende unerfindlichen Gründen ist er sehr beliebt bei Jungwählern.

Ins Amt des Bürgermeisters von Taipei – was in der Vergangenheit mal ein Sprungbrett für das Präsidentenamt war – ist er noch als Parteiloser mit Unterstützung der DPP gewählt worden. Doch die Liebe zum DPP-Lager ist erkaltet, und Ko hat seine eigene Partei gegründet. Ko gibt gern öffentlich mit seinem hohen IQ und seinem wirklich phänomenalen Gedächtnis an und nimmt nie ein Blatt vor den Mund. Das ist sein Markenzeichen. Er pflegt seinen Joker-Status, teils aus Berechnung, teils weil er nicht anders kann. So wie die bei uns einstmals sehr beliebte Klima-Pop-Ikone Greta leidet er am Asperger-Syndrom, was angeblich seine mangelnde Bereitschaft zu Kompromissen erklären soll, ebenso wie seine legendär undiplomatische und oft grobe Art.

Jedenfalls war er nicht bereit, der KMT zuliebe auf seine Präsidentschaftskandidatur zu verzichten, wohl wissend, dass er die geringsten Chancen zum Sieg hat, aber durch Spaltung der Opposition möglicherweise dem DPP-Kandidaten Lai zum Sieg verhelfen wird. Die Frage, wie die China-Politik eines Präsidenten Ko aussähe, ist wohl rein akademischer Natur. Er hat schon vieles gesagt und getan (u.a. auf China-Reise), was der DPP ein rotes Tuch ist und eher nach Kuomintang klingt. Für Peking könnte er also durchaus als Gesprächspartner infrage kommen; doch wird er dort bisher noch nicht ernstgenommen.

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Klaus Kelle, Chefredakteur