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Von der quälend langsamen Anpassung der Politik an Realitäten

Sultan Mehmed II und der Ukraine-Krieg: Wiederholt sich die Geschichte doch wieder?

MARTIN EBERTS
Der Fall von Konstantinopel 1453.

Als sich Sultan Mehmed II. – dessen Beiname Fatih, „der Eroberer“, heute viele Moscheen in Deutschland schmückt – im Frühjahr 1453 anschickte, durch die Einnahme Konstantinopels dem Byzantinischen Reich den Todesstoß zu versetzen, konnte er vor der Stadt ohne Sorgen so viele Truppen zusammenziehen wie er wollte. Das Risiko, dadurch an anderer Stelle verwundbar zu werden, womöglich sogar von einem Entsatzheer in die Zange genommen zu werden, war verschwindend gering. Zwar hatte der letzte byzantinische Kaiser, Konstantin XI., rechtzeitig Hilferufe nach Westen geschickt, verzweifelte Appelle an alle Höfe von Paris über London bis zum Kaiser des Heiligen Römischen Reiches; aber niemand war zur Hilfe bereit oder in der Lage.

Einzig der Papst versuchte bis zum Schluss, mit Hilfe der mächtigen Stadtrepubliken Venedig und Genua eine Art humanitäre Intervention für die getrennten Glaubensbrüder im Osten zu organisieren. Aber Bedenkenträger und Federfuchser aller Arten verzögerten die Sache so sehr, dass die Entsatz-Flotte erst zum Auslaufen bereit war, als es längst zu spät war. Konstantinopel und das Byzantinische Reich gingen in einer blutigen Gewaltorgie unter. Das war nicht nur eine humanitäre Katastrophe ungeahnten Ausmaßes, sondern auch ein historischer Dammbruch, der Europa für die nächsten 200 Jahre einer nicht enden wollenden militärischen Aggression aussetzte.

All die Gesandtschaften, Verhandlungen und deren Probleme und Verzögerungen waren Sultan Mehmed bekannt gewesen; er hatte – gewiss amüsiert und voller Verachtung – die quälende Langsamkeit dieser Bemühungen und den Egoismus der westlichen Mächte von Anfang bis Ende aus der Ferne mitverfolgen können.

Mindestens ebenso hilfreich wie das Ausbleiben rechtzeitiger Hilfe für die Byzantiner war für die osmanische Belagerungsarmee übrigens die Tatsache, dass man sich genügend erfahrene Kanonengießer aus dem Westen eingekauft hatte. Ohne deren Fleiß und Können hätten die Mauern Konstantinopels wohl der Belagerung standgehalten.

Warum soll uns das interessieren? Alle Ähnlichkeiten mit Ereignissen der Gegenwart sind natürlich reiner Zufall. Und bekanntlich wiederholt sich die Geschichte ja nicht…

Aber darf man aus der Geschichte lernen?

Der politische Autismus, mit dem die beiden politischen Lager in den USA die Ukraine-Hilfe vereiteln, ist um nichts besser als der kleingeistige Machtegoismus der Herrscher im 15. Jahrhundert. Und die Erfolglosigkeit der päpstlichen Bemühungen um Rettung durch zwei reiche, aber schrecklich kurzsichtige Handelsrepubliken erinnern an die Wortklaubereien und Zwistigkeiten europäischer Regierungen heute. Auch 1453 gab es durchaus Hilfe aus dem Westen für Byzanz. Aber leider zu wenig und zu spät.

Das Verblüffendste an der heutigen Situation geht aber noch weit über die Torheiten der westlichen Mächte von damals hinaus; man könnte es „Selbstverstümmelung durch Transparenz“ nennen. Da treibt man es heute noch toller als im Mächtekonzert des 15. Jahrhunderts. Jede Munitionslieferung und jede Veränderung der Produktionskapazität wird ja in den Medien diskutiert. Jede Art Rohrartillerie und jedes Raketensystem, das in die Ukraine geliefert werden soll, kann von Putins Leuten fein säuberlich verfolgt werden; Reichweite, Nutzlast, Anzahl der verfügbaren Stücke, Einsatzregeln usw. usf. – fast alles wird öffentlich erörtert.

Aber nicht nur das. Auch die Auslaufpläne deutscher Kriegsschiffe, die im Roten Meer gegen Terrorattacken der Huthis eingesetzt werden sollen, sind selbstverständlich über die Medien zugänglich. Darüber hinaus die Art der an Bord befindlichen Munition, deren Menge und Qualität, die Umrüstungspläne und deren Laufzeit. Auch die Rules of Engagement, natürlich. Es ist wie ein Stück aus dem Tollhaus…

Nun kann man natürlich zu Recht argumentieren, wir im Westen seien doch offene Gesellschaften, und wir Deutschen hätten doch eine „Parlamentsarmee“ (eine immer wieder vorgebrachte, unfreiwillig komische Einlassung); und überhaupt müsse doch die Öffentlichkeit wissen, was geschieht. Na klar! Da reden wir alle mit, oder? Da wir alle Taurus-Experten sind, sollten wir deren Einsatzpläne per Referendum – oder, noch besser: per Meinungsumfrage – festlegen lassen.

Das Problem sind nicht die Fähigkeiten unserer Soldaten; auch die Ausrüstung ist besser als ihr Ruf. Das Problem ist die quälend langsame Anpassung der Politik an die Realitäten – und die laienhafte Art, wie Schutzbedürftiges in den Medien breit getreten wird, bis in die höchsten Kreise.

Unser (und der Ukraine) bester Verbündeter ist immer noch die Schwerfälligkeit und Untauglichkeit des Putinschen Repressions- und Aggressionsapparates. Wir sollten aber darauf achten, dass die Lernkurve bei uns immer ein klein wenig steiler bleibt als die in Moskau. Und beim Thema Geheimhaltung sollten wir mal weniger an Datenschutz beim Abschluss von Handy-Verträgen denken, als an die äußere Sicherheit unseres Landes und des Bündnisses.

Dann wiederholt sich die Geschichte vielleicht wirklich nicht…

 

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Klaus Kelle, Chefredakteur