Die Uhr tickt: Trotz Säbelrasselns und Offensive gegen Charkiw läuft Putin die Zeit davon
Bei der Militärparade zum Sieg über Nazi-Deutschland am 9. Mai auf dem Roten Platz in Moskau hat Staatschef Wladimir Putin versprochen, er werde alles tun, damit es nicht zu einem neuen Weltkrieg komme. Damit beweist er, dass er offenbar doch mehr Humor zu haben scheint, als wir alle für möglich halten. Denn heute, im Jahr 2024, steht die Welt so nahe vor dem Dritten Weltkries wie seit 1945 nicht mehr.
Der Grund dafür ist Putin selber, denn er allein war es, der im Februar 2022 den Angriff auf das Nachbarland Ukraine befohlen hat.
Seitdem haben russische Truppen unter enormen Verlusten etwa 20 Prozent des ukrainischen Staatsgebietes im Osten und Süden des Landes mehr oder weniger unter Kontrolle bekommen. 300.000 Opfer auf beiden Seiten sind bisher zu beklagen, Militäranalysten im Westen gehen davon aus, dass durch die jetzt angelaufene russische Offensive gegen Charkiw, die mit 1,4 Millionen Einwohnern zweitgrößte Stadt des Landes nach Kiew, die Zahl der Opfer bis auf 500.000 anwachsen wird.
Und wofür das alles?
Ach ja, Nazis bekämpfen.
Tatsächlich rennt die Zeit gegen den Kriegsherrn im Kreml, seit das Repräsentantenhaus der Vereinigten Staaten endlich die festgefrorenen 61 Milliarden US-Dollar freigegeben haben. Seitdem läuft der Nachschub für die verzweifelt um ihre Freiheit kämpfende Ukraine wie nie seit Kriegsbeginn. Aus taktischen Gründen nennen die USA nicht alle Waffensysteme, die unterwegs zur Front sind. Klar ist aber, dass dringend benötigte Artilleriemunition und weittragende Raketensysteme vom Typ ATACMS („Army Tactical Missile System“) dabei sind. Ob die zum „Gamechanger“ werden können, hängt davon ab, wie viele dieser mobilen Raketensysteme zur Verfügung gestellt werden. Mit ihrer großen Reichweite von bis zu 300 Kilometer können sie die russische Infrastruktur wie Munitions-, Öl- und Waffendepots aus sicherer Distanz zerstören. Bedauerlicherweise kann sich Bundeskanzler Olaf Scholz bisher immer noch nicht dazu durchringen, Taurus-Marschflugkörper zu liefern, deren Reichweite und Fähigkeiten die ATACMS noch übertreffen würden.
Zeitlich wohl zufällig fällt Putins Säbelgerassel in Moskau mit einer USA-Reise von Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) zusammen. Während der Kreml-Führer auf dem Roten Platz die Militärparade abnimmt – übrigens mit so wenig Soldaten und Waffensystemen wie seit Jahrzehnten nicht mehr – legte Pistorius zum Tag der Befreiung auf einem Hügel auf dem Nationalfriedhof in Arlington eine Kranz für die 8000 gefallenen amerikanischen Weltkriegs-Soldaten nieder, die hier ihre letzte Ruhestätte gefunden haben.
Für einiges Aufsehen sorgte dann die Rede des deutschen Verteidigungsministers vor Hunderten Studenten an der Johns-Hopkins-Universität. Dort sagte Pistorius: „Wir arbeiten intensiv an der Stärkung des europäischen Pfeilers innerhalb der NATO, und wir sind bereit, die Führung zu übernehmen.“ Starke, selbstbewusste Worte, die man hierzulande und in Amerika von Deutschland nicht gewohnt sind.
Er bekräftige, dass Deutschland eine Brigade mit 4.800 Soldaten der Bundeswehr dauerhaft in Litauen zur Stärkung der Ostflanke des Bündnisses stationieren und das Mindestziel von zwei Prozent an Verteidigungsausgaben, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, erreichen werde. Die Aussetzung der Wehrpflicht in Deutschland nannte Pistorius „einen Fehler“ und kündigte an, dass wir wieder eine Wehrpflicht einführen werden. Die Zeiten hätten sich durch Putins Angriffskrieg geändert.
Die Situation im Kampfgebiet in der Ukraine war in den vergangenen Monaten immer mehr zugunsten Russlands gekippt, auch wenn es nur immer kleine Schritte sind, ist es Russland gelungen in die Offensive zu kommen, ohne die Front allerdings auf breiter Linie zu durchbrechen. Putin hat die russische Wirtschaft umgestellt auf Rüstung, die Übermacht an Material und Menschen ist gewaltig. Die Verluste an Material und Soldaten sind es auch.
Über ihre Propagandamedien verbreiten russische Kriegsblogger und Einflussagenten hierzulande Erfolgsmeldungen, mit denen jedes zerstörte 300-Seelen-Dorf als epochale Erfolg dargestellt werden. Und das immer verbunden mit dem Aufruf, die Ukraine solle nun eine „Verhandlungslösung“ suchen, was nichts anderes als Unterwerfung unter russische Herrschaft bedeuten würde. Und der Westen solle keine Waffen mehr liefern, weil das Frieden bedeute. Die Wahrheit ist: Ohne westliche Waffenlieferungen gäbe es die Ukraine als souveränen Staat heute gar nicht mehr.
Pistorius kündigte in den USA auch an, Deutschland werde der bedrängten Ukraine zeitnah drei Raketenartilleriesysteme vom Typ HIMARS zur Verfügung stellen. Auch das ist ein höchst effektives Waffensystem.
Die russische Erzählung von den westlichen Sanktionen, die ohne Wirkung in Russland blieben, ist erkennbar Fake
Das zeigt sich ausgerechnet am russischen Vorzeigeunternehmen, dem Energiekonzern Gazprom, der im vergangenen Jahr zum ersten Mal seit fast einem Vierteljahrhundert rote Zahlen geschrieben hat. Der Staatskonzern meldete für 2023 einen Nettoverlust von 629 Milliarden Rubel (fast 6,4 Milliarden Euro). Russische Analysten hatten nach einem Gewinn von 1,23 Billionen Rubel 2022 auch im Folgejahr Gewinn erwartet.
Damit handelt es sich nach übereinstimmenden russischen Medienberichten um den ersten Nettoverlust, den Gazprom seit dem Jahr 1999 verzeichnet hat. In den vergangenen Jahren war das Unternehmen stets profitabel.
Der plötzliche Einbruch des Geschäfts ist Folge der drastisch reduzierten Gaslieferungen nach Europa. Den EU-Staaten gelang es unerwartet schnell, Alternativen zum Gaslieferanten Russland zu finden. Noch 2021 bezogen europäische Staaten 40 Prozent ihres Erdgases von Gazprom. Im vergangenen Jahr waren es nach EU-Angaben nur noch 8 Prozent.
Die Uhr tickt für die Erreichung von Russlands Kriegszielen, der Westen hat es in der Hand, für die Entscheidung zu sorgen.
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