Entschuldigung, liebe Politiker, wir haben Euch leider zu viel zugetraut!
von FELIX HONEKAMP
Gerade hat die Kanzlerin die Notbremse gezogen, die Bevölkerung, das Parlament, die Medien und den ganzen Rest auch um Verzeihung gebeten für eine Entscheidung, die wirklich nur nachts um drei Uhr gut ausgesehen haben kann, deren Sinnhaftigkeit aber beim ersten Sonnenstrahl vampirgleich zu Staub zerfallen war. Es ist allerdings, so viel sei zugestanden, nicht so einfach, in diesen Tagen gute und richtige Entscheidungen auf politischer Ebene zu treffen, die dann auch noch von den Menschen im Land goutiert werden: Mehr impfen, weniger impfen, gar nicht impfen, Läden auf, Läden zu, Läden ein bisschen auf und zu, keine Treffen, kleine Treffen, alle treffen … die Forderungen aus den Medien, von Medizinern und Interessenvertretern sind so uneinheitlich, dass man sich als Politiker, egal wie man entscheidet, immer den Unmut eines nicht kleinen Bevölkerungsanteils zuzieht. Das ist, Ende der Zugeständnisse, das Berufsbild eines Politikers: Wer meint, er könne es allen recht machen, ist in dem Metier nicht gut aufgehoben.
Die Wurzel des Problems liegt aber an ganz anderer Stelle: Warum eigentlich schaut die ganze Republik auf die Kanzlerin und die verfassungsmäßig eigentlich irrelevante Runde von Ministerpräsidenten (letztere hätten wenigstens in der Gesundheitspolitik das Sagen, erstere nicht), damit die alle paar Wochen medialen weißen Rauch aufsteigen lassen können: „Habemus Lockdown“?!
Die Politik ist nicht in erster Linie ein faktenbasiertes Geschäft sondern eines der Meinungen. Wenn es um Fakten ginge, die sich so einfach verifizieren ließen, wäre das Ende der Geschichte schnell erreicht: Was ist die richtige Energiepolitik? Was ist die richtige Migrationspolitik? Was ist die richtige Wirtschafts- und Finanzpolitik? Einfach nur das jeweils Richtige faktenbasiert herausfinden und dann umsetzen. Nur leider mischen sich hier munter Fakten mit ihrer Interpretation und reinen Meinungen, und selbst bei manchem, was als Fakt dargestellt wird, ist man sich meistens nicht sicher, ob es nicht doch eher eine Meinung ist. Damit setzt Politik – bestenfalls – die Mehrheitsmeinung um. Mit Fakten oder gar Wahrheit hat das alles wenig zu tun. Wenn als wissenschaftliche Berater der Regierung nur noch solche in Frage kommen, die die aktuelle Corona-Politik bestätigen, während andersmeinende Wissenschaftler medial und politisch diskreditiert werden, dann ist das daher menschlich durchaus verständlich: Es geht primär nicht darum, das Richtige zu tun sondern darum, Mehrheiten zu gewinnen und zu bedienen, Macht zu erhalten, und dafür die richtigen Argumente zu sammeln.
Wenn das nun aber so ist, warum sollte man tatsächlich glauben, dass eine Ministerpräsidentenkonferenz, in der sicher mehr als eine Meinung diskutiert wird, etwas Besseres liefern kann als ein Mehrheitsergebnis? Warum sollte irgendjemand, egal ob nachts um drei oder mittags um zwölf, annehmen, dass es in solchen Runden um „das Richtige“ oder gar um „die Wahrheit“ ginge? In den Fastentagen vor Ostern lesen wir in den Kirchen aus der Bibel von Pilatus, der im Prozess gegen Jesus die Frage stellte: „Was ist Wahrheit?“ Pilatus war an der Wahrheit gar nicht interessiert, er war Politiker, geradezu ein Sinnbild von Politik. Wahrheit ist für einen Politiker (ehrlicherweise wieder zugestanden: für einen Menschen in seiner Rolle als Politiker) keine wirklich relevante Größe (das macht dieses Umfeld so attraktiv für Soziopathen aller Art).
Wo also liegt der Kern des Problems, der sich anhand der Corona-Politik veranschaulichen lässt, aber natürlich nicht darauf begrenzt ist? Nicht in der Politik als solcher, sondern schlicht in der Erwartungshaltung derjenigen, die auf die Politik schauen. Die Mehrheit erwartete noch immer von „der Politik“ Lösungen für alles und jedes. Und „die Politik“ stellt sich darum auch als die finale Lösungsinstanz für alles dar. Was zuerst war, die Erwartungshaltung oder der Selbstanspruch, ist dabei am Ende irrelevant. Spätestens in existenziellen Fragen kann jeder Politiker diese Erwartung aber nur enttäuschen. Das ist allerdings nicht in erster Linie dessen Schuld. In diesem Sinne schulden „wir“ als Wahlvolk den Politikern und der Kanzlerin eine Entschuldigung: „Wir haben Erwartungen in Euch gesetzt, die Ihr nicht erfüllen konntet. Das tut uns leid und werden wir jetzt ändern – also tretet zur Seite und lasst uns in Freiheit und Verantwortung und an den jeweils richtigen Stellen selbst Entscheidungen treffen!“
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Klaus Kelle, Chefredakteur