Heute vor 60 Jahren starb Peter Fechter (18) im Kugelhagel an der Mauer – und alle schauten beim Sterben zu
von MARTIN D. WIND
BERLIN – 35 Schüsse gellten am 17 August 1962 durch die Berliner Luft. Sie wurden – ohne Anruf oder Warnschuß – auf zwei junge Männer abgegeben, die versuchten, aus einer Diktatur in die Demokratie zu fliehen. Helmut Kulbeik gelingt der rettende Sprung von der Mauer in die Freiheit. Der 18-jährige Peter Fechter hat dieses Glück nicht: Obwohl er im Rücken und Bauch von Schüssen schwer getroffen von der Mauerkrone rutscht, hinter einem Mauervorsprung Deckung sucht und nicht mehr in der Lage ist, seine Flucht fortzusetzen, gehen die schwerbewaffneten „Helden des Wachregimes“ weiter unter Feuer gegen den unbewaffneten Jugendlichen vor.
Die Soldaten beziehen neue Stellung und feuern so lange auf Peter Fechter, bis dieser letztlich am Fuße der „Schandmauer“ (Willy Brandt, 16. August 1961) zusammenbricht. Aus mehreren Wunden stark blutend ruft er laut um Hilfe. Doch niemand kommt, um ihm beizustehen. In der sowjetisch besetzten Zone trauen sich Polizei und Soldaten nicht aus ihren Verstecken – in der jüngeren Vergangenheit hatte die brutale Trennung der Menschen in Berlin durch die vom SED-Regime euphemisch als „antifaschistischer Schutzwall“ gefeierte Todesmauer zu aggressiven Spannungen mit Schusswechseln geführt. Dabei waren auch Wachsoldaten des sozialistischen Regimes in Ostberlin tödlich getroffen worden.
Vom Westteil der Stadt aus versuchten Polizisten, dem verblutenden und immer schwächer rufenden Mann wenigstens Verbandsmaterial zuzuwerfen. Die Mauer zu überwinden, trauten sie sich allerdings nicht, weil sie dann in der sowjetischen Besatzungszone gelandet wären. Auch amerikanische Wachsoldaten, die am nahe gelegenen Sektorenübergang „Checkpoint Charlie“ Wachdienst leisteten, bekamen von Ihren Vorgesetzten den Befehl, weiter „Dienst zu tun, stark zu bleiben und still zu stehen“. Dieses Verhalten sollte für die Beziehungen zwischen den Berlinern und den amerikanischen Soldaten noch zu einer nicht unbedeutenden Belastung führen.
Selbstverständlich war das Geschehen in der Zimmerstraße nicht unbemerkt geblieben. Schüsse und hektische Betriebsamkeit auf beiden Seiten der Sperranlagen wurden auch von Bürgern auf beiden Seiten der Mauer wahrgenommen. Peter Fechters verzweifelte Hilferufe waren weit zu hören. Sowohl östlich als auch auf der Westseite der Mauer sammelten sich Menschen, die die „Offiziellen“ lautstark zur Hilfeleistung aufforderten. Im Osten gingen Wachsoldaten und Polizei umgehend gegen die Menschenmenge vor und zerstreuten sie mit Tränengas und unter Schlagstockeinsatz. Im Westen schienen die Einsatzleitungen lediglich eine Eskalation der Lage verhindern zu wollen und sicherten den Mauerstreifen gegen eine Annäherung der wütenden Menschen.
Fechters Rufe wurden immer leiser
Je verzweifelter und je leiser die Rufe Fechters wurden, umso größer wurde die Wut bei den Zeugen der Geschehnisse: Die Menschen konnten und wollten nicht verstehen, dass ein junger Mensch, der versuchte dem sozialistischen „Konzentrationslager“ (Willy Brandt, August 1961), der davon mit Waffengewalt abgehalten und schwer verletzt worden war, von westlicher Seite keine Hilfe geleistet wurde. Und Zeit zur Hilfe oder zumindest zum Beistand beim Sterben war genug. Peter Fechter starb eine Stunde, nachdem er an der Mauer blutend und schwerverletzt zusammengebrochen war. 60 lange Minuten hatte er auf Menschlichkeit gehofft, auf Linderung seiner Schmerzen und darauf gewartet, dass man wenigstens versuchen würde, sein Leben zu retten.
Die „bewaffneten Organe“ (was für eine Sprache!) des Wachregiments wagten sich erst aus ihren Löchern, nachdem der Tatort mit einer künstlichen Nebelwand uneinsehbar gemacht worden war. Erst dann trauten Sie sich an den Ort des Geschehens und bargen – so muss heute nach den Ergebnissen der Obduktion angenommen werden – den Leichnam Peter Fechters. In einem Prozess gegen zwei der Täter wurde festgehalten, dass der Obduktionsbericht zeige, dass Peter Fechter bereits durch die Schüsse so verletzt worden war, dass jegliche Hilfe vergebliche Mühe gewesen wäre. Sie waren demnach unmittelbar an der Tötung beteiligt. Leider konnte die tödliche Verletzung nicht eindeutig zugeordnet werden und außerdem besteht noch die Möglichkeit, dass ein dritter, bereits verstorbener Täter den letztlich tödlichen Schuss abgegeben haben könnte.
So bleibt der Totschlag an Peter Fechter mit gerade mal 20 bzw 21 Monaten auf Bewährung für die Todesschützen weitgehend ungesühnt.
Peter Fechter war nicht das erste Todesopfer des SED-Regimes an der Mauer. Vor ihm haben seit der Erbauung der Sperranlage mindestens 27 Menschen versucht, in Freiheit zu gelangen und wurden dabei ihres Lebens beraubt. Nach heutigem Wissenstand sind in Berlin und an der Sektorengrenze zwischen den Westalliierten und dem sowjetisch besetzten Teil Deutschlands, an der Mauer, in Minenfeldern und im Stacheldraht mindestens 1100 Menschen von Wachsoldaten erschossen, von Selbstschussanlagen zerfetzt, von Minen in die Luft gejagt oder von scharfen Hunden zerfleischt worden.
Peter Fechters Schicksal, sein Leiden, die eiskalte Reaktion der Verantwortlichen und die politisch Agitation aus SED und deren Propagandaapparat, haben der Weltöffentlichkeit die brutale Grausamkeit der Sozialisten gegen Menschen grell vor Augen geführt. Das konnte nicht vertuscht werden. Noch heute gibt es Menschen, die diese Realität nicht wahrhaben wollen, noch heute gibt es Menschen, die ein Denkmal für Fechter vandalisieren (2011 Bernauer Straße).Umso nachdrücklicher muss in Erinnerung gehalten werden, dass Sozialismus in jeder Form, immer Unfreiheit bedeutet, die Menschenleben fordert.
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