Warum ich meinen Beruf noch ein bisschen weitermache…
Liebe Leserinnen und Leser,
zu den Vorzügen des Journalistenberufs gehört es, dass man jeden Tag neue interessante Menschen kennenlernt, und dass sich aus solchen Gesprächen unglaublich viel Erkenntnisgewinn für den Journalisten ergibt, manchmal auch ganz ungewöhnliche Geschichten.
Als Leser meines täglichen „Frühen Vogels“ wissen Sie, dass mein gestriger Tag richtig mies angefangen hat – mit der Deutschen Bahn. Jetzt aber sitze ich in meinem schönen Hotelzimmer an der Friedrichstraße in Ost-Berlin und bin überaus zufrieden, denn die vergangenen Stunden mit hochinteressanten Menschen aus verschiedenen Ländern haben mich mit meiner Reisetätigkeit wieder versöhnt.
Sie wissen, dass viele Menschen in Deutschland heute nicht mehr in der Lage sind, andere Meinungen auszuhalten, zu ertragen oder sogar in Erwägung zu ziehen, dass man selbst bei einem Thema auch mal falsch liegen könnte. Ich habe mir diese Eigenschaft kultiviert, ja, ich liebe es sogar im privaten Freundeskreis, wenn mir jemand gut begründet widerspricht. Weil dass dazu führt, den eigenen Standpunkt immer wieder zu hinterfragen, die eigenen Argumente zu überdenken, zu schärfen oder vielleicht sogar zu ändern.
Wenn ich jeden Tag alles so lese in den sozialen Netzwerken, wer genau weiß, was Putins nächster Schritt in der Ukraine sein wird, und was Joe Biden mit seinem Sohn Hunter in der Bibliothek des Weißen Hauses gestern wieder besprochen hat, dann ist das atemberaubend, denn niemand außer den Beteiligten kann das ja wissen, aber der deutsche Facebook-Nutzer aus dem Hochwarzwald, der weiß das genau und bürstet diejenigen, die ihm widersprechen mit atemberaubender Arroganz ab.
Nach einem Meinungsaustausch am Nachmittag mit politisch interessierten Menschen aus Ländern wie Indien, der Schweiz, Südkora, Österreich und den USA über die aktuelle Weltlage, waren wir noch in einem Steakhaus, um etwas zu essen und den Tag Revue passieren zu lassen. Frisch gezapftes Radeberger, Fleischbrocken, Pommes, Espresso…ganz normal. Aber dann wurden die Gespräche immer intensiver, und einzelne am Tisch waren keine Hobby-Strategen, sondern Menschen, die in der Diplomatie erfahren sind, Analytiker, die schon an Orten dieser Welt im Auftrag von Regierungen unterwegs waren, von denen unsereins ohne Google nicht einmal weiß, wo die liegen.
Oder waren Sie schon einmal in Südamerika und haben über die Freilassung von Geiseln mit einer Regierung und einer Terrororganisation verhandelt? Oder waren Sie in Afghanistan, um mit Politikern dort Verhandlungen zu führen, die – O-Ton – „genauso aussehen wie wir, aber das sind richtige Taliban“.
Und natürlich das große Thema: Der russische Krieg in der Ukraine, die Sanktionen des Westens und – damit zusammenhängend – die Probleme mit unserer Energieversorgung und der Inflation. Sie kennen meine Haltung dazu, aber statt dem üblichen Getue à la „der Putin und ich“, das ich mir jeden Tag anhören muss, wurden meine Argumente zur Ukraine-Krise in großen Teilen zerlegt, mit unwiderlegbaren Fakten und überzeugenden Argumenten. Und ganz ohne Wichtigtuerei, ohne sich mit einer der beteiligten Seiten gemein zu machen, sondern die Lage aus Sicht eines neutralen Beobachters ruhig zu analysieren.
Warum Putin seine Kriegsziele nicht erreichen kann, aber dennoch gesichtswahrend aus diesem idiotischen Krieg wieder herauskommen muss. Warum die indische Regierung nachts vor Lachen nicht in den Schlaf kommt, warum der Westen an Einfluss verlieren wird, zumindest Europa, egal, wie das alles ausgeht, und warum China auf jeden Fall gewinnt – auch, egal, wie der Ukraine-Krieg ausgeht. Und das alles nicht auf Stammtisch-Level, sondern von Leuten, die wissen, über was sie reden.
Ich glaube, ein paar Jahre mache ich das mit diesem Job noch. Soll ich Rente beantragen oder Golf spielen? Soll ich noch Lebenszeit mit der Gründung der 100. neuen Partei vergeuden?
Nein, die Welt ist so klein geworden, und sie ist so grausam, geleitet von vielen Partikularinteressen, die nichts mit Politik zu tun haben oder gar mit dem Wohlergehen der Bürger, von denen man die Macht auf Zeit übertragen bekommen hat. Aber es ist phantastisch, wenn man hin und wieder erklärt bekommt, was da draußen wirklich passiert.
Mit herzlichen Grüßen,
Ihr Klaus Kelle
Neueste Früher Vogel
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Klaus Kelle, Chefredakteur