Compliance-Regeln: Wieso musste Julian Reichelt gehen und Kai Wegner darf bleiben?
In den zivilisatorisch entwickelten Staaten und Wirtschaftssystemen des Westens hat man vor langer Zeit begonnen, sich verbindliche Regeln für den wirtschaftlichen Umgang in politischen Administrationen und in Konzernen, oftmals sogar in eigentümergeführten Familienunternehmen, zu geben. Compliance nennt man neudeutsch diese Bereitschaft, verbindliche Regeln einzuhalten.
Der Volksmund würde sagen, Vetternwirtschaft darf es in Unternehmen und Politik nicht geben. Leistungsbereitschaft und echte Leistung müssen der Maßstab der Beurteilung sein, im Rahmen eines verbindlichen Regelwerks.
Und in diesem Lichte kommt man nicht umhin, sich die „Beziehung“ des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Kai Wegner, mit seiner Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch (beide CDU) zu beschäftigen.
Als diese, sagen wir Liebelei, bekannt wurde und Anfragen im Abgeordnetenhaus (von Linke und Grünen) gestellt wurden, ob ein berufliches Abhängigkeitsverhältnis in hohen Regierungsämtern kompatibel damit ist, wenn die handelnden Personen miteinander privat ihr Leben teilen, galt sofort Vorwärtsverteidigung. Das Rote Rathaus ließ mitteilen, man habe für alle Anfragen in dieser familiären Angelegenheit einen bekannten Medienanwalt beauftragt Aber das reicht natürlich nicht.
„Ich kann vollkommen nachvollziehen, dass die Situation, wie sie sich am letzten Freitag aufgetan hat, neu ist“, sagte Senatorin Günther-Wünsch dem Berliner „Tagesspiegel“.
Und, Schwupps, man habe nun eine „Lösung“ für das Problem gefunden. Sie denke, damit sei jetzt „alles geklärt“, so die Politikerin.
Aber ist es das? Können zwei Senatsmitglieder Privates und Berufliches wirklich klar trennen? Immer klar trennen? In einem beruflichen Abhängigkeitsverhältnis?
Der Berliner Senat hat nun neue Regeln zur Vermeidung von Interessenkonflikten beschlossen.
Konkret heißt das: Wegner gibt seine Rolle als Vermittler bei Streitfällen zwischen den Fachverwaltungen des Senats ab, sofern es um die Bildungsverwaltung geht.
Ist das die Lösung? Oder gelten Compliance-Regeln in Deutschland nicht für alle? Ich denke nicht, dass man zur Tagesordnung übergehen kann.
Erinnern Sie sich noch an den Fall des früheren BILD-Chefredakteurs Julian Reichelt?
Da war der Konzernspitze des Springer-Medienhauses und einigen Medien bekannt geworden, nein, falsch, es war von Reichelt-Gegnern „durchgestochen“ worden, wie man das in unseren Kreisen nennt, dass der mächtige Medienmann ein intimes Verhältnis mit einer „Berufseinsteigerin“ und angeblich einer weiteren Mitarbeiterin des Hauses gehabt haben soll. Die Einzelheiten spielen hier keine Rolle.
Jedenfalls strengte der Axel Springer-Verlag ein internes Untersuchungsverfahren wegen Verletzung der Compliance-Regeln an.
Julian Reichelt erhielt zunächst eine zweite Chance, doch dann kam plötzlich eine neue Erklärung des Hauses Springer, in der es hieß:
»Als Folge von Presserecherchen hatte das Unternehmen in den letzten Tagen neue Erkenntnisse über das aktuelle Verhalten von Julian Reichelt gewonnen« Und weiter: Julian Reichelt habe auch nach Abschluss des Compliance-Verfahrens im Frühjahr 2021 »…Privates und Berufliches nicht klar getrennt und dem Vorstand darüber die Unwahrheit gesagt hat.«
Also, das Compliance-Verfahren gegen Julian Reichelt, zog sich zwar hin wie Kaugummi, und ich bin überhaupt nicht in der Lage, aus allen dem Flurgeflüster der Berliner Kollegen die Wahrheit und nichts als die Wahrheit herauszufiltern.
Aber wieso musste Julian Reichelt gehen und wieso darf Kai Wegner darf bleiben?
Natürlich darf und kann ein Staat Leuten nicht vorschreiben, in wen sie sich verlieben oder auch mit wem sie sexuelle Verhältnisse haben. Aber wenn in einem Unternehmen oder einer Administration, wo sehr relevante Entscheidungen getroffen werden, so eine Abhängigkeit durch Privates entsteht, dann bedeutet Compliance aus meiner Sicht einen klaren Schnitt:
Im aktuellen Fall, dass Herr Wegner – unwahrscheinlich – oder Frau Günther-Wünsch – notwendig – die persönlichen Konsequenzen ziehen sollten, ja müssen. Jedenfalls, wenn unser Staat sich selbst noch ernstnimmt.
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Klaus Kelle, Chefredakteur