Interview mit DUI-Chef Bence Bauer: „Die Ungarn sehen sehr genau hin, was in Deutschland geschieht“
Das Erscheinen von Bence Bauers Buch „Ungarn ist anders“ fällt fast zeitgleich mit dem dreijährigen Jubiläum des Deutsch-Ungarischen Instituts für Europäische Zusammenarbeit (DUI) am Mathias Corvinus Collegium (MCC) zusammen. Das Institut wurde am 1. Dezember 2020 gegründet, und es hat in Brüssel wie in Berlin einen guten Namen als führender Think Tank Ungarns. Wir wollten wissen, was Bence Bauer antreibt.
Herr Bauer, was hat Sie zur Herausgabe dieses Buches motiviert?
Bereits im ersten Monat seines Bestehens erhielt unser Institut eine Anfrage, die Grundlagen des europäischen Selbstbildes von Ungarn einem interessierten Fachpublikum in Deutschland in einem Aufsatz darzustellen. Ich zögerte keine Sekunde, und so entstand ein recht denkwürdiger Beitrag. Auch danach erhielt ich immer wieder die Gelegenheit, ungarische Standpunkte, Hintergründe und wenig Bekanntes in diversen Aufsätzen und Artikeln in der deutschen und deutschsprachigen Presse zu publizieren. So entstanden immer mehr Schriften, die es aber zu sortieren, zu ordnen und letztlich in einem Buch herauszugeben galt, was sich als richtiges und wichtiges Unterfangen darstellte.
Haben die Deutschen eine Vorstellung davon, was das heutige Ungarn wirklich so (um)treibt?
Immer wieder stelle ich im Dialog mit deutschen Gesprächspartnern fest, wie wenig Wissen sie doch von Ungarn haben und wie wenig Zusammenhänge, Diskurse und Muster ihnen bekannt sind. Dies motiviert mich, zur Verbesserung des gegenseitigen Verständnisses zwischen Deutschen und Ungarn beizutragen. Man kann also mit Fug und Recht sagen: Ungarn ist anders! Ungarn ist anders, als man denkt, und anders, als man erwartet – und vor allem anders, als die deutschen Leitmedien es immer wieder darstellen. Jeder, der zu uns kommt, kann sich auf positive Überraschungen gefasst machen.
Das vorliegende Buch ist als erster Band einer geplanten Buchreihe konzipiert. Wie geht es weiter?
Wir planen die Buchreihe als Jahresband unseres Instituts. Herausgeber der Reihe ist Prof. Dr. Frank-Lothar Kroll, Professor für Europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts an der Technischen Universität Chemnitz. Einmal im Jahr sollen die wichtigsten Schriften, die dem Arbeitsbereich des Instituts entstammen, in diesem Sammelband veröffentlicht werden. Das Design und die Aufmachung der weiteren Bände werden sich einheitlich darstellen, auch der Umfang soll mit etwa 260 Seiten gleichbleiben.
Geplant ist, dass Beiträge von Gastautoren und wissenschaftlichen Mitarbeitern unserer Einrichtung gesammelt und thematisch geordnet publiziert werden. Schwerpunktmäßig kreisen wir natürlich um Ungarn, um seine Geschichte, seine Kultur, seine Politik, sein öffentliches Leben und das Selbst- und Fremdbild der Ungarn. Insbesondere Bereiche, die wir mit den Verhältnissen und Befindlichkeiten in Deutschland spiegeln, können zu ganz neuen Erkenntnissen und Einsichten des deutschen Publikums führen. Viele Debatten und Diskussionen über Ungarn sind nämlich meist Diskurse der Deutschen mit sich selbst über ihre gegenwärtigen politischen, medialen und öffentlichen Verhältnisse.
In Ihrem Buch beschreiben Sie immer wieder die Eigenheiten des ungarischen Volkscharakters, insbesondere seinen großen Freiheitsdrang, und ziehen das auch als Begründung für die derzeitige deutsch-ungarische Eiszeit auf höchster politischer Ebene heran. Doch diese Unterschiede gab es auch schon im Jahr 2010. Trotzdem waren die deutsch-ungarischen Beziehungen damals respektvoller, alles verlief reibungsloser. Haben wir Kommunikationsprobleme? Oder ist das die Folge von Missverständnissen?
Lange galt es, im Zuge der politischen Wende von 1989 und der hierauf folgenden Nachwendezeit, möglichst viel an Prozessen, Denkmustern und Debatten aus den führenden demokratischen Ländern des Westens auch in den neuen Demokratien Mittel- und Osteuropas heimisch zu machen. Damit einhergehend war es immer eine Maxime, sich möglichst gut und schnell in die bestehenden Strukturen einzufügen und auch keine unangenehmen Nachfragen zu stellen. Dies war auch in Ungarn der Fall. Die Ostmitteleuropäer, gerade eben der kommunistischen Unrechtsherrschaft und der sowjetischen Okkupation entflohen, sahen in den euroatlantischen Integrationszielen zunächst die Abkehr von Unrecht, Unfreiheit und Unterdrückung.
Doch schnell stellte sich heraus, dass der Westen seinen kolonialen Blick nicht ablegen konnte und die Neuankömmlinge dies auch spüren ließ. Unter anderem davon handeln die Erfolgsbücher von Dirk Oschmann und Ivan Krastev. Die ungarischen Regierungen ab 2010 haben erkannt, dass Ungarn sich um die eigene Achse drehen sollte und dass es zur erfolgreichen Selbstbestimmung eines Landes dazugehört, eine eigene Position zu entwickeln und Debatten selbst zu prägen – teilweise auch mit Bündnispartnern in der Region und ohne oder notfalls sogar gegen die Westeuropäer. Dass damit einhergehend auch Konflikte vorprogrammiert sind, ist unvermeidlich. Darunter leidet selbstverständlich auch das politische Beziehungsgeflecht der beiden Länder Deutschland und Ungarn.
In den Jahren kosmopolitisch eingestellter Regierungen, die mit ihrer gegenüber dem Westen unkritischen Geisteshaltung und einer breiten, noch aus sozialistischen Tagen stammenden internationalen Vernetzung reüssierten, wurde das von westlichen Beobachtern weitgehend ignoriert. Ungarn wurde als Wunderknabe der mittelosteuropäischen Transformation auf ein unbegründet hohes Podest gestellt, von dem es später unbegründet tief heruntergerissen wurde. Hinzu kommt jetzt, dass die Ampelkoalition in Deutschland in den wichtigen Bereichen Migration, Wirtschaft, Energie, Familie und Innere Sicherheit eine gänzlich andere Agenda verfolgt als die konservative Regierung in Ungarn, die aktuell nicht mehr mit der Unterstützung der Deutschen rechnen kann.
Was folgt daraus für Ungarn? Die Deutschen einfach so nehmen, wie ihre Regierung ist? Oder Abwarten auf bessere Zeiten?
Der deutsche Souverän hat im September 2021 gesprochen und die jetzige Ampelregierung mit einer Mehrheit im Deutschen Bundestag ausgestattet. Dies muss akzeptiert werden. Ebenso haben die ungarischen Wähler Fidesz-KDNP mit 54 Prozent der Stimmen ausgestattet und in 87 von 106 Wahlkreisen zu einem Sieg verholfen. Auch dies sollte akzeptiert werden. Wie immer gilt: Der Wähler hat immer Recht. Deutsche Fragen, Probleme und Befindlichkeiten sind in Deutschland von den deutschen Wählern zu klären, genauso wie ungarische Fragen, Probleme und Befindlichkeiten in Ungarn von den ungarischen Wählern.
Daher sollten wir Ungarn es tunlichst unterlassen, uns in deutsche Angelegenheiten einzumischen. Im Gegenzug erwarten wir zu Recht, dass auch die Deutschen die Entscheidungen des ungarischen Souveräns akzeptieren. Ein anderer Aspekt ist freilich, dass wir in Ungarn sehr genau wahrnehmen, welche Entwicklungen sich in Deutschland abspielen. Unsere Länder verbindet sehr vieles und Ungarn war jahrhundertelang ein nicht unwichtiger Teil des weitgestreckten deutschen Sprach-, Kultur- und Zivilisationsraumes. Es ist uns schlicht nicht egal, was in Deutschland geschieht. Vieles von dem, was in Deutschland mittlerweile gang und gäbe ist, könnte es in Ungarn schlichtweg nicht geben. Hätten die Ungarn beispielsweise eine Wahlrechtsreform hingelegt wie die Ampel im März 2023, dann wäre die EU-Kommission schon längst eingeschritten.
Wie das?
Dies waren nicht meine Worte, sondern die des damaligen CDU-Generalsekretärs. Dass mit einem derart undemokratischen Verfahren die Grundsätze von 74 Jahren bundesdeutscher Erfolgsgeschichte über Bord geworfen werden, ist ein Skandal erster Güte. Viel skandalöser finde ich jedoch, dass ausgerechnet die sich in den „Brandmauer“-Debatten so gut übenden Parteien der Ampelkoalition dieses Gesetz gemeinsam mit vielen Stimmen der AfD beschlossen haben. Offenbar ist das immer dann kein Problem, wenn es gemeinsam gegen die CSU geht.
Vertreter Ungarns hüten sich davor, innerdeutsche Angelegenheiten zu kommentieren. Aber die Diskussion über ein Parteienverbot der AfD wird auch in Budapest wahrgenommen
Die politischen Rahmenbedingungen sind in Deutschland andere als in Ungarn. Dazu gehört auch das Konzept der wehrhaften Demokratie. Ein Parteiverbotsverfahren, wie es gegen die AfD derzeit diskutiert wird, ist in seiner Einzigartigkeit nicht zu verstehen ohne die historischen Erfahrungen der Deutschen mit totalitären Unrechtsherrschaften.
Auch in Ungarn sind beispielsweise Hammer und Sichel oder das Hakenkreuz verboten. Eine Partei zu verbieten, käme den Ungarn aber wohl nie in den Sinn. Einschränkungen der Freiheit werden nicht toleriert. In Deutschland sind die Befindlichkeiten mit Bezug auf mögliche totalitäre Tendenzen im Parteiengefüge jedoch anders ausgeprägt.
Interessanter wäre freilich die Frage, wie wohl die deutsche und die europäische Öffentlichkeit reagieren würden, wenn sich die Regierungsfraktion in Ungarn anschicken würde, eine maßgebliche Oppositionspartei zu verbieten. Die AfD ist sehr heterogen und hat moderate, aber auch eindeutig extreme Elemente. Ob sie nun wirklich die Demokratie in Deutschland beseitigen will, bezweifle ich. Das wäre aber für ein effektives Verbot erforderlich. Zudem muss überlegt werden, wie opportun ein mögliches Verbotsverfahren wäre, das die Selbstzuschreibung der AfD als vermeintliche Märtyrerin der deutschen Demokratie nur noch weiter bedient und beflügelt.
Wie bewerten Sie das Verhalten der CDU?
Die Lage der Oppositionsführerin CDU ist vertrackt. Sie müsste eigentlich die führende Opposition zur Ampel darstellen, tut sich aber schwer damit. Dies hat damit zu tun, dass die CDU als „Kanzlerpartei“ oder „Kanzlerwahlverein“ sich schwerlich mit ihrer gar nicht mehr so neuen Rolle als Oppositionspartei identifizieren kann. Die CDU hat ein inhaltliches, strukturelles und personelles Problem. Inhaltlich war es sie selbst, die die großen problembehafteten Entscheidungen, für die die Ampel gerade büßen muss, getroffen oder ermöglicht hat, so etwa bei der Migration, dem Atomausstieg oder bei Genderfragen.
Strukturell regiert sie in den Ländern überall mit den Parteien, die sie im Bund kritisieren müsste, also der SPD und den Grünen. Selbst in dem einzigen Land außerhalb Bayerns, wo es auch ohne AfD eine bürgerliche Mehrheit gibt, nämlich in Schleswig-Holstein, regiert sie lieber mit den Grünen. Personell gesehen stammt mit Ausnahme von Friedrich Merz und Carsten Linnemann die CDU-Führungsriege meist aus der Merkel-Zeit und ist also für die fehlerhaften Entscheidungen direkt persönlich mitverantwortlich.
Wie sieht es mit den einfachen Bürgern aus?
Die Mitte der deutschen Gesellschaft denkt ähnlich wie die Mitte der ungarischen Gesellschaft. Die Menschen wollen in Sicherheit und Frieden leben. Sie möchten arbeiten, dafür fair entlohnt werden, Eigentum erwerben, die Bildung und Zukunft ihrer Kinder sicherstellen. Ihnen sind ideologiegetriebene gesellschaftliche Dogmen und Illusionen abhold, sie wollen ein gutes und erfülltes Leben. Es gibt aber leider wenig an Foren in Deutschland, die dieses Lebensgefühl transportieren.
Man sollte sich davor hüten, die veröffentlichte Meinung mit der Meinung der Mehrheit der Bevölkerung gleichzusetzen. Die Politik muss nach meinem Dafürhalten ihre grundsätzlichen Aufgaben erfüllen, den Menschen aber Eigenverantwortung zugestehen und sie generell in Ruhe lassen. In Ungarn funktioniert dies erstaunlich gut, die konservative Regierung hat es verstanden, keine unnötigen gesellschaftlichen Konfliktlinien zu eröffnen, anders als etwa die bisherige Regierung in Polen mit ihrer rigiden Abtreibungspolitik.
In Deutschland ist hingegen insbesondere in der Politikgestaltung der Grünen ein erzieherisches, als arrogant empfundenes und moralisierendes Element zu erkennen, das sich immer mehr in die privaten Lebensbereiche der Menschen einzumischen scheint. Das mögen aber auch die Deutschen nicht und machen ihrer Unzufriedenheit darüber zunehmend Luft. Dieses Gefühl der Unzufriedenheit kann bisher die AfD am erfolgreichsten thematisieren und in die öffentliche Debatte einbringen. Sie sammelt damit viele, die sich gegen die Grünen und ihren Politikstil aussprechen, in der CDU aber keine kraftvolle Opposition dagegen sehen.
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Klaus Kelle, Chefredakteur